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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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rechtfertigt sein Verbrechen wirklich, was nun über die deutschen Juden hereinbrechen wird? Elise hat geweint, als im Mai in der Zeitung stand, dass mit sofortiger Wirkung alle jüdischen Ärzte ihre Approbation verlieren, und sie war schier untröstlich, als Hermann kurz darauf die Todesanzeige aus Leipzig schickte. Dr. Isaak Kuhn, der alte Hausarzt, der sie und die Eltern so viele Jahre treu begleitet hatte, plötzlich und unerwartet sanft entschlafen, gemeinsam mit seiner lieben Frau Selma.
    Der erste Mensch, Abraham, David, von dem Jesus’ Mutter Maria abstammt, Jesus selbst, bevor er getauft wurde: Juden, alle Juden, genau wie dieser wahnwitzige Pariser Junge, Herschel Grynszpan, der nun in Haft auf seinen Strafprozess wartet.
    »Ein Automobil!«
    Theodor zuckt zusammen. So versunken war er in seine Gram, dass er den Lichtstrahl der Scheinwerfer, der über das Kopfsteinpflaster der Predigerstraße gleitet, beinahe nicht bemerkt hätte.
    »Oh, das ist Wilhelm, ich mache schnell Tee!«
    »Nein, Elise, warte. Das ist nicht nötig. Er wird nicht bleiben.«
    »Aber warum …?«
    Er schüttelt den Kopf, heißt sie drinnen zu warten, zählt seine Schritte, die ihn an die Tür bringen.
    »Wilhelm!«
    »Theodor!«
    Sie grüßen sich deutsch, blicken sich in die Augen.
    »Es ist schon spät, Theodor.«
    »Ich komme nicht mit.«
    »Nicht mit? Was soll das heißen?«
    Ein Moment absoluter Stille folgt, selbst der Wind hält den Atem an.
    »Die Pflicht, Wilhelm. Ein Junge liegt im Sterben.«
    »Und das ist wichtiger als –«
    »Sie sind gute Deutsche, und es ist schon das dritte Kind, das sie an den Keuchhusten verlieren.«
    Ausreden. Lügen. Fängt es so an, das Ende der Rechtschaffenheit? Später wird er sich das fragen, wieder und wieder, jetzt, in diesem Moment, ist es nur eine unheilschwangere Ahnung. Und würde es überhaupt irgendetwas ändern, wenn er den Mut aufbrächte, die Wahrheit auszusprechen, würde dann zumindest dieser arme Wichmannsdorfer Bauernjunge diese Nacht überleben? Wer auch nur ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt, heißt es im Talmud. Aber es gibt nur einen Gott, einen wahren Glauben. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir, das erste Gebot. Vater. Gott. Allmächtiger Gott! Wenn Du zulässt, was in dieser Nacht geschieht, kann es doch nicht falsch sein? Und was, wenn sie ihn verhaften und in ein Konzentrationslager sperren, wie Niemöller? Was wird dann aus Elise und den Kindern?
    Aus dem Fonds des Wagens dringt das Gejohle der Kameraden, jemand drückt auf die Hupe. Zeit vergeht, ein quälendes, sich zerdehnendes Schweigen, und schließlich ist es doch Wilhelm Petermann, der als Erster den Blick senkt, mit zusammengepressten Lippen.
    »Nun, wenn du meinst, Theodor.«
    »Ich muss meine Pflicht tun.«
    »Das müssen wir alle.«
    Feigheit, ist das Feigheit, die ihm plötzlich die Kehle zuschnürt? Eine hündische Angst, wie früher als Junge, wenn er sehr wohl wusste, dass er etwas ausgefressen hatte und Strafe verdiente, und dennoch, in dieser endlosen Zeitspanne, bevor der Rohrstock des Vaters auf ihn niedersauste, nicht mehr bereit war, für seine Missetat geradezustehen, sondern flehte und bettelte, ihn doch dieses eine Mal zu verschonen?
    »Wir sprechen dann morgen. Heil Hitler!«
    »Heil!«
    Kies spritzt auf, als Petermann zurück zum Wagen marschiert, der Motor heult auf, und als der Fahrer ihn wendet, muss Theodor sich beherrschen, nicht ins Haus zurückzuweichen, sondern weiter die Rechte zum Gruß erhoben zu halten, denn die Scheinwerfer blenden ihn, scheinen direkt auf ihn zuzuhalten, zwei böse Augen.
    »Was ist geschehen, Theodor? Habt ihr euch gestritten?« Wie durch dichten Nebel dringt Elises Frage zu ihm, als das Motorengeräusch des Automobils verklungen ist und er wieder im Flur steht.
    »Nein, nein.« Er greift nach seinem Mantel.
    »Aber du bist ganz blass.«
    »Die frische Luft wird mir guttun.« Er küsst sie auf die Stirn, bittet sie noch einmal, nicht auf ihn zu warten. Wie könnte er ihr je sagen, was sich in ihm abspielt? Es ist nicht möglich, denn sie soll sich nicht ängstigen, schon gar nicht in ihrem Zustand.
    Die Sterne sind über ihm, kein Mond und auch sonst kein Licht, nur die Sterne, sobald die letzten Häuser von Klütz hinter ihm liegen. Wolkenfetzen jagen sich über kahlen Bäumen, in denen der Wind zischt und rüttelt.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind
. Wie lange schon ist das her, dass Elise und er das in Leipzig hörten,

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