Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
mit dem braven Hermann in ihrer Mitte. Aber sie hatte nur Augen für ihn, wie hat sie ihn an diesem Abend angesehen, und wie ist ihm Paul Benders Gesang in die Seele gefahren, jeder Ton purer Schmerz über den entsetzlichen Verlust, den der unglückselige Vater bei seinem Ritt nicht wahrhaben wollte, bis es zu spät war. Theodor schreitet fester aus. Fester. Schneller. Die Luft schneidet eisig in seine Lungen. Am Horizont glaubt er schon die Lichter von Boltenhagen zu erkennen. Dort wirft die Ostsee ihre salzige Fracht auf den Sand, Muscheln und Algen und allerlei Meeresgetier, der Fraß der Möwen. Dort hat im letzten Jahrhundert ein jüdischer Kurgast den Bau der christlichen Paulskapelle angeregt, weil in einem Seekurbad ohne sonntäglichen Gottesdienst doch etwas fehle. Schneller, schneller. Noch zwei Kilometer bis Wichmannsdorf. Noch einer. Vielleicht muss der Schultejunge ja gar nicht sterben, auch wenn die Kopfweiden am Ortseingang Theodors Gedanken wieder zum Erlkönig lenken.
Doch die Hoffnung war vergebens. Sobald ihm geöffnet wird, weiß er das. Ihm bleibt nur noch, den Dank abzuwehren, den er nicht verdient hat. Dank dafür, dass er doch noch einmal so überraschend gekommen ist, wo er doch eigentlich anderswo unabkömmlich war. Und er muss die Sterbesakramente geben und Worte des Trosts sprechen, die nicht trösten können.
Drei Söhne tot und keiner war älter als acht. Ist das wirklich gerecht, ist das Gottes Wille? Später, allein in der Kirche zu Klütz, lässt er diese Frage zu. Die Hilflosigkeit, die damit verbunden ist. Die Ohnmacht. Er schaltet das Licht im Eingangsbereich ein, tastet sich im Halbdunkel des Kirchenschiffs bis zum Altar, entzündet die Kerzen. Er weiß, dass auf der Rückseite des hohen Altargemäldes die Namen und Dienstjahre aller Pastoren aufgelistet sind, die in dieser Kirche jemals gedient haben. Normalerweise erfüllt ihn dieses Wissen mit Kraft, doch nicht heute, denn am Ende der Auflistung steht sein eigener Name, mit offenem Ende.
Lichtreflexe huschen über das Bild, lassen es beinahe lebendig erscheinen. Jesus in schwarzer Düsternis, gen Himmel fahrend, Maria mit flehend erhobenen Händen, die Alabasterleiber der Engel darüber nur Schemen. Ich bin nur ein Mensch, Vater, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, nimm mich und vergib mir in dieser Schicksalsnacht. Behüte all die, die an Dich glauben, lass nicht zu, dass ein Unrecht geschieht. Und lass unser Volk nicht im Stich, in diesem Krieg, der wohl kommen wird. Denn es wird wieder Krieg geben, das scheint gewiss. Warum sonst wurde die Wehrpflicht auf zwei Jahre verlängert und Österreich annektiert? Warum sonst marschiert unsere Wehrmacht schon ins Rheinland und ins Sudetenland ein?
Etwas klappert hinter ihm, reißt ihn aus seinen Gedanken. Er fährt herum, lauscht, glaubt ein Rascheln zu hören.
»Wer da?«
Stille. Atmen. Dann ein kaum hörbares Flüstern.
»Ich, Vater. Amalie.«
Amalie zu dieser Unzeit. Sie muss den Schlüssel fürs Hauptportal stibitzt haben, hat bestimmt nicht um Erlaubnis gefragt.
»Und was hast du hier zu suchen, mitten in der Nacht?«
»Ich wollte nur, ich –« Rascheln. Knistern.
»Komm her, zeig mir, was du da verbirgst.«
Sie trägt nicht einmal einen Mantel, nur das Schulkleid, das ihr schon wieder zu kurz geworden ist, sodass ihre mit Macht anschwellende Weiblichkeit noch offenbarer wird als ohnehin schon.
»Komm her zu mir, habe ich gesagt. Zeig mir, was du da in die Kirchenbank gelegt hast.«
»Es ist nur Musik, Vater. Ich wollte nur –.«
»Was wolltest du? Es ist nach Mitternacht!«
»Hören, wie es klingt. Allein. Hier.« Sie deutet auf das Seitenschiff, wo das Klavier für die Chorproben steht, wirft die Zöpfe in den Nacken wie ein trotziges Pony.
»Und deshalb schleichst du hier im Dunkeln herum wie eine Diebin? Was, wenn deine Mutter dich nun sucht und sich um dich sorgt? Wenn sie dich braucht, sie oder deine Geschwister, hast du das überlegt?«
»Nein, Vater. Es tut mir leid. Ich dachte, alle schlafen.«
»Leid tut dir das. So.«
Er packt ihren Arm, entwindet ihr das Papier, das tatsächlich ein Notenblatt ist, dreht es ins Licht der Kerzen. Felix Mendelssohn Bartholdy. War sie etwa an der Kiste auf dem Dachboden?
»Wo hast du das her?«
»Es ist nur Musik, Vater. Nur ein Lied. Es hat nicht einmal Worte.«
»Du bringst uns in Gefahr. Nicht nur dich. Uns alle. Du hast ja keine Ahnung. Willst du, dass wir im Lager enden?«
»Aber diese Musik ist
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