Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Schlips. Die Sandwälle, die um sie herum aufgehäuft waren, glichen Befestigungsanlagen, als gelte es, sich gegen einen Überfall aus den Nachbarstrandkörben zu verteidigen. Sie hatten auch Wimpel gehisst, ab ’33 vermutlich welche mit Hakenkreuz, aber davon gab es keine Postkarte zu kaufen. Nur ein einziger, etwa dreijähriger Junge auf dem Foto war nackt, aber das Mädchen, das ihn an der Hand hielt, trug ein Kleid und weiße Halbschuhe. Die große Schwester. War das auch Amalies Los gewesen? Aufpassen auf die Kleinen, statt selbst Kind sein zu dürfen?
Ich lief schneller, vorbei an einem Teepavillon, reetgedeckten Badehäusern und den weißen Säulen vor dem Kurkonzertplatz. Meine Stiefel hämmerten ein Stakkato aufs Pflaster. Noch zwanzig Meter, noch zehn, nur noch einer, dann die Holzstiege zum Strand. Ich blieb stehen, als ich unten angekommen war, blinzelte in die Helligkeit. Möwen kreischten, die Ostsee war träge. Aber der Geruch von Tang war da, der Sand, dieser Überfluss an allem.
Ich muss dieses Licht sehen, Rixa, draußen, am Horizont. Dieses Licht, wenn es noch nicht richtig dunkel, aber auch nicht mehr hell ist. Sieht man den Übergang zwischen Wasser und Himmel als Linie oder verschwimmt der?
Zwei Frauen stapften an mir vorüber, die Hand der Älteren lag vertrauensvoll in der Armbeuge der Jüngeren. Mutter und Tochter, der Wind wehte ihnen die langen Haare der Tochter in die Augen. Sie lachten und die Tochter versuchte vergebens, ihre Locken zu bändigen. Die Zeit zurückdrehen können, nur ein einziges Mal! In jener Nacht vor zwölf Jahren nicht aus dem Atelier stürmen, sondern Piets Autoschlüssel nehmen, eine Kanne Thermoskaffee kochen und mit Ivo auf dem Beifahrersitz einfach drauflosfahren, ins Blaue hinein, Richtung Meer, so wie früher. Und einmal, nur ein einziges Mal, mit meiner Mutter so über den Strand laufen können, wie die beiden Frauen, die nun an der Wasserkante standen, immer noch Arm in Arm und miteinander redend, innig, verbunden.
Ich lief los, knickte um. Hochhackige Stiefel im Sand, das war keine gute Idee, also zog ich sie aus, streifte auch die Nylonstrumpfhose von meinen Beinen. Besser, viel besser. Der Sand war kühl, Muschelsplitter piekten in meine Fußsohlen.
Der Körper altert, Ricki, aber die Gefühle bleiben die gleichen.
Ich ließ die Stiefel hinter mir liegen und lief in die feuchtkalte Schaumlinie, die die Gischt in den Sand malte. Die erste Welle war eisig, ein Schock, aber ich trat noch einen Schritt vor, ließ die nächste bis über meine Waden schwappen und grub die Zehen in den Schlick, wie als Kind, als Teenager, als Studentin. Ich war so überzeugt gewesen, dass ich das immer und immer wieder tun würde, jeden Sommer, aber nach Ivos Tod war ich nicht mehr an der mecklenburgischen Ostseeküste gewesen.
Der Geruch von Salz, von Ferne. Farben wie mit Pastellkreiden getupft, durchscheinend, pudrig. Dieses Prickeln in den Füßen und in den Waden, ein Ameisenheer. Sie hatte recht gehabt, meine Mutter, jetzt, hier, in diesem Moment, verstand ich zum ersten Mal ganz genau, was sie damals gemeint hatte. Ich war eine andere, aber all das war geblieben.
Ich hob einen schwarz glänzenden Stein mit mattweißen Flecken auf, begutachtete ihn, schleuderte ihn wieder ins Wasser.
Wer zuerst einen Hühnergott findet, ist der König!
Kaum kam der Strand in Sicht, hatte Ivo das gerufen. Und wir rannten los, die Augen auf den Sand geheftet. Weil ein Hühnergott zaubern kann, weil er Glück bringt.
Ich lief an der Wasserkante entlang und begann zu suchen, wie früher. Hob einen Stein auf, noch einen, drehte ihn, ließ ihn wieder fallen. Hühnergötter sind rar, denn ein Hühnergott ist nur echt, wenn er ein Loch hat, sodass man ihn auf eine Schnur ziehen kann, Sand durch ihn rieseln lassen oder hindurchschauen.
Feuersteine sind das, die stammen aus der Kreidezeit, deshalb haben sie diese weißen Kanten und Einlagerungen,
erklärte Alex uns jedesmal, egal wie laut wir darüber stöhnten.
Und da, wo jetzt ein Loch ist, steckte vielleicht mal ein fossiler Seeigelstachel drin oder ein Stück Koralle …
Doch auch Alex konnte sich der Hoffnung auf einen Talisman nicht entziehen, auch er mühte sich, zwischen all den glänzenden schwarzweißen Steinen und Miesmuschelschalen, die die See an den Strand spie und wieder fort riss, einen Hühnergott zu erspähen.
Manchmal verging über eine Stunde, bis einer von uns einen Hühnergott gefunden hatte. Oft war das Ivo. Und
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