Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
reagieren, nicht wirklich greifbar, mehr Schwingung als Klang, als würde zum ersten Mal seit sehr langer Zeit die Saite eines Instruments berührt. Vielleicht war ja eine Erinnerung an diesen Namen geknüpft, irgendeine Geschichte, ein Satz, ein Detail, das ich als Kind einmal aufgeschnappt und gleich wieder vergessen hatte, weil es keinen Sinn ergab. Doch ich hätte schwören können, dass niemand in meiner Familie je in Sellin gelebt oder davon gesprochen hatte, auch bei keiner unserer Besuchsreisen waren wir dorthin gefahren.
Meine Mutter besaß keinen Computer, und mein eigenes Notebook ließ sich nicht mit dem Internet verbinden, doch nach einigem Suchen entdeckte ich in der Schrankwand zwischen Fotoalben und längst verloren geglaubten Kinderschätzen einen Autoatlas aus dem Jahr 1985 und eine Mecklenburgkarte. Im Register des Atlas’ waren zwei Sellins aufgeführt – eins auf Rügen und eins in Schleswig-Holstein –, beide zu weit von Berlin entfernt, um als Ziel meiner Mutter infrage zu kommen. Die Mecklenburgkarte war brüchig und abgenutzt, ein DDR-Produkt: Die Welt jenseits der Westgrenze bestand nur aus einer namenlosen Fläche. Doch die Autobahn A 19 existierte bereits, und wenige Zentimeter neben der Stelle, an der meine Mutter verunglückt war, lag das Sellin, das ich suchte: ein winziger Punkt, direkt neben einem als hellblaues Oval dargestellten Gewässer. Irgendjemand hatte den Ortsnamen einmal mit einem Bleistiftkringel markiert, diesen dann aber wieder ausradiert.
Wer? Warum? Die nächstgelegene größere Ortschaft war Güstrow, die Geburtsstadt meiner Mutter. Kurz hinter der Autobahnauffahrt Güstrow war Ivo verunglückt. Wusste er von Sellin? War er in der Unfallnacht gar nicht unterwegs an die Ostsee gewesen, wie ich immer geglaubt hatte? Doch wenn ja, welchen Grund hätte es gegeben, mir das zu verschweigen?
Ich riss das Adressbuch unserer Familie aus dem Sekretär, eine dickbauchige Kladde im A5-Format, weiß mit grünen Punkten. Als Kind hatte mich dieses Buch immer maßlos fasziniert, denn mir schien, es steckte voller mysteriöser Codes, die uns Abenteuer und Besucher und Reisen versprachen – das Koordinatensystem meiner Kindheit. Meine Mutter hatte acht Geschwister, mein Großvater fünf. All diese Onkel und Tanten, Cousinen und Vettern und Großtanten und Großonkel hatten sich im Laufe der Jahre eifrig vermehrt und in sämtliche Himmelsrichtungen verteilt. Es gab Retzlaffs in fast allen Bundesländern, in zahlreichen Dörfern und Städtchen Mecklenburgs, sogar in Dänemark, Hongkong und den USA. Die Verwandtschaft meines Vaters war dagegen winzig und hoffnungslos langweilig, denn sie waren alle seit Generationen im Rheinland verwurzelt. Man konnte sie von Köln aus auf einen Kaffee besuchen, einfach so, ohne Komplikationen. Man brauchte nicht einmal bei ihnen zu übernachten.
Ich setzte mich an den Esstisch, blätterte durch die Seiten. 1964 hatten meine Eltern geheiratet, das Adressbuch war ein Hochzeitsgeschenk gewesen. Die erste Anschrift, die meine Mutter eingetragen hatte, war die meiner Großeltern, Theodor und Elise, die damals noch in Poserin lebten, dem Paradies unserer Kindheitsferien, in dem sich nie etwas zu verändern schien. KIRCHSTRASSE 5. Ordentliche Druckbuchstaben hatte meine Mutter gemalt, zu jedem nachfolgenden Eintrag ließ sie exakt zwei Leerzeilen Abstand. Doch im Laufe der Jahre geriet ihr Ordnungssystem aus den Fugen. Straßen- und Ortsnamen wurden wieder durchgestrichen, neue Anschriften daneben gekritzelt. Aufwendig gestaltete Postkarten, die Umzüge in ein »neues Heim« oder Geburten verkündeten, klebten und klemmten im Buch. Eine offenbar nie in Anspruch genommene Einreisegenehmigung in die Deutsche Demokratische Republik für fünf Tage im Mai 1979, ausgestellt für Frau Dorothea Hinrichs, geborene Retzlaff. Was war damals geschehen, dass sie doch nicht gefahren war? Es war nicht mehr zu rekonstruieren.
Den Umzugstermin meiner Großeltern von Poserin nach Zietenhagen, einem Dorf an der Ostseeküste, dem Altenwohnsitz meiner Großeltern, hatte meine Mutter mit Rotstift und Ausrufezeichen notiert: 1. Juli 1981. Warum rot? Sie hatten Poserin nicht verlassen wollen, ihre Selbstständigkeit nicht aufgeben, obwohl meine Großmutter schon seit Jahren mit der Haushaltsführung überfordert gewesen war, vielleicht deshalb. Wir Kinder, damals schon Teenager, hatten Poserin vermisst und die Ostsee dennoch geliebt. Außerdem wohnte unser Onkel Markus mit
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