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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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versucht, diesen Tisch zu bewahren, alles wollte sie konservieren: unser Haus, unsere Möbel, unser Leben. Nussbaumholz, das zum Klavier passen musste, aber nein, es war ja umgekehrt, rief ich mir ins Gedächtnis. Das Klavier war nicht in erster Linie ein Musikinstrument, sondern ein weiteres Möbelstück, das zu den anderen passen musste und das meine Mutter genauso hingebungsvoll pflegte wie alle anderen Einrichtungsgegenstände. Sie arrangierte sogar Blumenvasen und Nippfigürchen darauf, die ich ebenso beharrlich wieder entfernte, weil sie bei den hohen Tonlagen klirrten.
    Doch sie war es auch gewesen, die meinen Vater dazu gedrängt hatte, mir Klavierstunden zu bezahlen und das Klavier für mich anzuschaffen. Sie hatte mir vermittelt, dass Musik etwas Schönes ist und mich zum Unterricht gefahren und in den ersten Jahren dafür gesorgt, dass ich regelmäßig übte. Erst als ich selbstständiger wurde und Ehrgeiz entwickelte, schlug sie die Tür zu der Welt, die sie für mich geöffnet hatte, wieder zu. Sie begann, meine Übungszeit zu limitieren, sie sprach mich jedes Mal an, wenn sie hinzukam, während ich übte, ja sie schien regelrecht versessen darauf zu sein, mich zu stören. Weil sie meine Musik nicht mochte, hatte ich gedacht. Weil sie mich und meinen Berufswunsch einfach nicht respektierte. Weil sie neidisch war, mir den Erfolg nicht gönnte. Aber manchmal nahm ich noch etwas anderes wahr, etwas in ihren Augen, eine Art Unsicherheit oder gar Angst, als ob sie sich vor der Aussicht, eine Pianistin als Tochter zu haben, fürchtete. Aber das gab sie nie zu, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie mich mit Absicht unterbrach und behinderte.
Sei doch nicht so empfindlich, Ricarda
.
Du spielst hier doch kein Konzert. Ich will dir nichts
Böses, wieso bist du so aggressiv?
    Dorothea Hinrichs, geborene Retzlaff. Das Nesthäkchen der Retzlaffs. Das Gottesgeschenk. Das Mädchen, das mit fünfzehn ganz allein zu seinem großen Bruder Richard in den Westen gezogen war, angeblich ohne seine Eltern jemals zu vermissen. Meine Mutter, die mich zur Welt gebracht und genährt hatte, die mir das Laufen beibrachte, die mir meinen Namen gab.
    »Warum heiße ich Ricarda?«
    »Das weißt du doch, Ricki. Weil Richard dein Taufpate ist.«
    »Und warum gerade meiner?«
    »Papa wollte das so.«
    »Warum?«
    »Ach, das ist eine alte Geschichte. Eigentlich sollte er Alex’ Pate werden, aber Papa war dagegen.«
    »Mag er Onkel Richard denn nicht?«
    »Aber natürlich mag er ihn. Doch vor deinem Onkel hat es schon einmal einen Richard in unserer Familie gegeben. Das war der große Bruder von Opa, und der musste in den Krieg und ist ganz jung gestorben. Deshalb hatte Papa Angst, dass sich dieses Schicksal für einen Sohn, der so heißt, wiederholen könnte.«
    »Aber mich habt ihr so genannt.«
    »Du bist ein Mädchen, du musst nicht in den Krieg.«
    Riffraff hatte ich meinen Patenonkel als kleines Mädchen genannt. Mein Onkel Riffraff. Er war Gartenbaumeister, er roch immer nach Humus und frischer Luft und ein winziges bisschen nach Schweiß. Ein Mann mit vom vielen Bücken leicht nach vorn gekrümmten Schultern und Händen wie Schaufeln, dunkel gegerbt von der Erde. Er fuhr mich in einer Schubkarre spazieren, wenn wir ihn besuchten, schob mich geduldig durch Blumenrabatten und Gewächshäuser. Er schenkte mir zum Abschied jedes Mal eine Staude, die ich mit großem Ernst in unseren Garten pflanzte, wo sie dann trotz all meiner Bemühungen und der akribischen Pflanz- und Gießanweisungen meines Onkels meistens nicht lange überlebte. Irgendwann nach Ivos Tod war mein Kontakt zu ihm abgerissen. Inzwischen war Richard über achtzig und wohnte an der Ostseeküste in der Nähe von Travemünde. Ich suchte nach Worten, ihm den Tod seiner einstigen Schutzbefohlenen zu erklären, und fand keine, die taugten. Tippte seine Telefonnummer dennoch ins Handy.
    »Hier ist Rixa … Ricarda … also deine Nichte.«
    »Ich weiß, wer du bist, min Deern. Was verschafft mir die Ehre?«
    Der plattdeutsche Zungenschlag, der leise Spott – für Sekundenbruchteile sah ich uns bei einem Abendessen auf der Veranda in Poserin sitzen, ich auf seinen Knien, Alex und Ivo mir gegenüber, fast schmeckte ich sogar wieder die rote Grütze auf der Zunge, süße überreife Beeren, von uns Kindern gepflückt, von unserer Oma eingekocht. Wir kochen Grütze, hatten wir gerufen, dabei haben wir vermutlich vor allem genascht und im Weg herumgestanden.
    Ich versuchte mich

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