Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
auf die Gegenwart zu konzentrieren, zwang mich, den Tod meiner Mutter in möglichst präzisen Sätzen zu erklären, sah uns dabei aber wie in einem Filmparallelschnitt noch immer auf dieser Veranda. Alle zusammen, alle lebendig. Ivo zappelt mir gegenüber auf seinem Stuhl und streckt Alex und mir abwechselnd die Zunge heraus. Ist sie nun himbeerrot oder brombeerblau, das ist die Frage, die ihn beschäftigt. Aber mir ist das egal, ich lasse mich einlullen von den Stimmen der Großen, die Dinge erörtern, die uns nicht betreffen und sich allmählich mit dem Wind in den Bäumen und dem Summen der Insekten zu einem Schutzschirm verweben. Ich liebte es, Richards Stimme in meinem Rücken zu fühlen: Kaskaden von Vibrationen, die mich jedes Mal, wenn er sich über etwas ereiferte oder amüsierte, so sehr kitzelten, dass ich lachte.
»Dorothea, mein Gott.«
Ich hörte seinen Atem am anderen Ende der Telefonleitung. Ein leises Rasseln. Rhythmisch. Schwer. Oder war das mein eigener Atem in meinen Ohren? Etwas raschelte, vielleicht setzte mein Onkel sich hin oder legte etwas aus der Hand. Ich hätte ihm eine Chance geben sollen, sich auf das, was ich ihm zu sagen hatte, vorzubereiten.
Ich stand auf und trat ans Fenster, sehnte mich weit weg, in mein Leben auf der Marina. Dort hatte ich mich stark gefühlt, sicher vor der Vergangenheit. Ein Wunschtraum war das gewesen, Verblendung – kindisch und dumm. Nichts war vorbei, bloß weil ich abgehauen war, ganz im Gegenteil: All die Erinnerungen, die ich nie mehr hatte haben wollen, schienen durch die Jahre der Nichtbeachtung sogar an Kraft gewonnen und auf mich gewartet zu haben, und nun sprangen sie mich an und rissen an ihren Ketten wie halbwilde hungernde Tiere beim Anblick ihres Wärters.
»Mama hat Ivos Tod nie verwunden.« Ich hörte die Bitterkeit in meiner Stimme, fühlte mich mit einem Mal unendlich müde.
»Das musst du doch verstehen, Ricki. Ein Kind zu verlieren ist für eine Mutter das Schlimmste.«
»Natürlich, ja.«
Ich presste die Stirn an die Fensterscheibe, starrte in das rostige Nachtlicht der Straßenlaternen. Es schneite noch immer, schneite, als würde es nie wieder aufhören. Wattige Flocken, die alles verdeckten: den Dreck, die Konturen, die Stadt, nur nicht das, was vergangen war.
»Dein Großvater hat dich getauft, Rixa. In einem eisigen Winter
in Poserin. Über einen Meter hoch lag der Schnee damals,
die meisten Straßen waren vollkommen unpassierbar. Und so reisten wir
mit der Bahn nach Mecklenburg: Papa, Alex, du und ich
und Onkel Richard, mit Kinderwagen und Sack und Pack. Du
kannst dir nicht vorstellen, wie bepackt wir waren, denn in
der Ostzone gab es ja damals rein gar nichts zu
kaufen. Unter deiner Matratze schmuggelten wir Kaffee, zwei Braten, Tortencreme,
Ananas in Dosen, Perlonstrumpfhosen, Schokolade und Ersatzteile für den Heißwasserboiler
deiner Oma. Alex war damals schon vier, der musste laufen.
Das fand er sehr ungerecht, und an der Grenze fing
er prompt an zu heulen. Jetzt ist alles aus, dachte
ich, denn auch du hast losgebrüllt. Aber das erwies sich
als Glück, denn die Grenzer hatten es plötzlich sehr eilig,
uns abzufertigen. Sie halfen uns sogar beim Umsteigen in den
Kurswagen nach Rostock und kamen ordentlich ins Schwitzen, als sie
deinen Kinderwagen die Treppe hochwuchteten. Und dann kamen wir
irgendwann in Karow an, und das war die Endstation. Keine
der Straßen war auch nur annähernd geräumt, schließlich hat uns
ein Bauer mit dem Pferdeschlitten aufgelesen und zu deinen Großeltern
transportiert.«
»Und was ist dann passiert?«
»Dann waren wir in Poserin, und Opa hat dich getauft. Aber nicht in der Kirche, sondern im Pfarrhaus, weil es in der Kirche keine Heizung gab. Ganz gerührt war er, als er dir seinen Segen gab, und dein Onkel Richard hat dich auf dem Arm gehalten. Du hast diese Zeremonie tatsächlich verschlafen und sahst dabei sehr niedlich aus. Ach, dieses Taufkleidchen! Alle Retzlaff-Enkel haben das getragen. Schon vor deiner Taufe hatte ich deinen Namen mit rosa Garn neben den hellblauen von Alex gestickt, mitten zwischen die von euren Cousins und Cousinen, und bevor wir wieder heimfuhren, übergab ich das Kleidchen deiner Tante Elisabeth für ihre Tochter Franziska, die ein paar Wochen später zur Welt kam, und später bekam ich es dann zurück, für Ivo.«
»Eure Mutter hat euch alle sehr geliebt, Ricarda. Sie hätte bestimmt nicht mit Absicht … ganz gewiss wollte sie Alexander und dir keinen
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