Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
seiner Familie in Zietenhagen, und unsere Cousins und Cousinen nahmen uns mit zu den Dorffesten und Jugend-Tanzgelegenheiten im Umkreis, einmal fuhren wir sogar in ein Rockkonzert nach Rostock.
    Ich blätterte weiter, fand abgerissene und vergilbte Rückseiten von Briefumschlägen mit gestempelten oder handgeschriebenen Absendern, Hochzeits- und Todesanzeigen. Weitere Retzlaff-Nachkömmlinge erblickten das Licht der Welt. Andere zogen aus und besaßen nun eine eigene Anschrift. Der Adresszusatz DDR verschwand, die deutschen Postleitzahlen wurden fünfstellig, alle Retzlaffs hatten nun Telefonnummern, schließlich auch Handynummern und E-Mail-Adressen, deren @-Zeichen meine Mutter beharrlich falsch schrieb, weil sie ihr nichts sagten. Das Buch war eine Chronik vielmehr als ein Adressbuch – doch Sellin spielte im Leben der Retzlaffs keine Rolle.
    Ich schob das Buch beiseite und ging in die Küche, die im diffus bläulichen Fernsehlicht der Hinterhofnachbarn schwamm. Abende auf der Couch mit Chips und Wein und der TV-Fernbedienung in der Hand – früher hatte es die in meinem Leben manchmal gegeben. Lange, sehr lange waren die her, kamen mir vor wie Bilder aus einem anderen Leben. Ich trank ein Glas Wasser, füllte es erneut. Auch meine Mutter kaufte nie Mineralwasser, sondern trank aus der Leitung, vielleicht hatte sie hier manchmal nachts genauso wie ich gestanden: an die Spüle gelehnt, ohne das Licht einzuschalten, um den Blick auf die drei glücklichen Kindergesichter über dem Kühlschrank zu vermeiden. Und was tat sie am Tag? Sprach sie mit den Toten, die sie hier wie in Schlaf- und Wohnzimmer von Fotos und Bildern ansahen? Oder ließ sie ihre Geister von Radio und Fernsehen vertreiben?
    Sie hatte Ivos Anschrift im Adressbuch nicht durchgestrichen, auch nicht die seiner Galerie oder die ihrer Eltern. Vielleicht waren die Toten am Ende also wirklicher für sie gewesen als die Lebenden. Vielleicht klebte Alex’ Visitenkarte deshalb so unpersönlich und allein auf einer leeren Seite des Adressbuchs, als wäre es die eines Fremden, und die Telefonnummer meiner Reederei hatte sie erst gar nicht im Adressbuch notiert, weil sie sie nur aus einer Laune heraus recherchiert hatte, ohne ernsthaft vorzuhaben, sie je zu wählen.
    Alles in Ordnung, ich komme schon klar.
Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich mir eingestand, wie allein sie gewesen war. Allein, immer allein – Wochen, Monate, Jahre. Allein mit ihren Erinnerungen und der einen oder anderen Pflegekatze, die sich zum Dank für Quartier und Pflege noch nicht einmal von ihr streicheln ließ.
    Als wir Ivo beerdigten, strömte Regen aus einem bleigrauen Himmel, und meine Mutter warf sich vor seinem Grab in den Matsch, fluchte und weinte und schlug nach jedem, der sie von dort wegziehen wollte, schrie minutenlang nur Ivos Namen. Weil sie mit Gott haderte, erklärte sie später. Mit Gott und dem Schicksal, das ihr eins ihrer Kinder genommen hatte. Weil sie gegen alle Vernunft darauf hoffte, Gott würde sich erweichen lassen, wenn er nur begriff, wie falsch Ivos Tod war, welch tragischer, ungeheuerlicher Fehler.
    Und wir nickten und taten so, als würden wir ihr glauben. Alex und ich und mein Vater und alle anderen.
Kümmert euch um eure Mutter,
forderten die Beerdigungsgäste beim Abschied von Alex und mir.
Ihr seid stark genug, ihr müsst nun für sie da sein, sie braucht euch.
Aber das war nicht wahr, wir konnten nur scheitern. Weil meine Mutter nicht um eines ihrer Kinder trauerte, sondern um gerade dieses. Weil es keinen Ersatz für Ivo gab, weil er ihre Liebe gewesen war. Ihre Liebe, ihr Stolz, ihr Lebenssinn. Er und seine Bilder, warum auch immer.
    Ich ging zurück ins Wohnzimmer und setzte mich wieder an den Tisch, an dem meine Mutter und ich vor ein paar Monaten versucht hatten, normal miteinander umzugehen und uns füreinander zu interessieren, oder zumindest den Anschein zu erwecken, dass wir das täten. Wenn Ivo mich hatte ärgern wollen, trommelte er manchmal mit großer Geste den Flohwalzer auf die Tischplatte. Wenn er träumte, malte er die feinen Linien der Holzmaserung und all die für das Auge kaum wahrnehmbaren Kuhlen und Kerben mit dem Zeigefinger nach.
    Ich suchte im Adressbuch nach meinem Onkel Richard, strich mit der freien Hand über das Holz. Unzählige Male hatte meine Mutter das poliert, es mit Wachstischdecken und Untersetzern und Platzsets vor uns geschützt, uns ermahnt, keine Kratzer zu machen und nicht zu kleckern. Sie hatte

Weitere Kostenlose Bücher