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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Kummer bereiten.«
    »Weißt du, was sie in Mecklenburg gewollt hat?«
    »Nein, das weiß ich nicht.«
    »Wann hast du denn zum letzten Mal mit ihr gesprochen?«
    »Kurz nach Silvester, da klang sie ganz munter.«
    »Ich glaube nicht, dass sie munter war.«
    »Wie kannst du das wissen?«
    »Sie war depressiv. Und sie hat gelogen. Immer hat sie behauptet, sie wolle nie wieder Auto fahren und nie wieder nach Mecklenburg, und dann …«
    Ich wandte mich vom Fenster ab und betrachtete den Esstisch, das Klavier, die Ölporträts meiner Großeltern. Wieso hatte meine Mutter die hier aufgehängt? Aus Liebe? Oder war das eine weitere selbstquälerische Spielart ihrer Wiedergutmachungsmission? Ein Akt der Reue, weil sie die beiden einst so leichten Herzens verlassen hatte?
    »Du darfst nicht so schlecht von deiner Mutter sprechen, Ricki, möglicherweise war ihre Reise ja ein spontaner Entschluss …«
    »Das war nicht spontan, das war ihre fünfzehnte Fahrt dorthin.«
    »Die fünfzehnte. Ach.« Wieder hörte ich ihn atmen, glaubte ihn förmlich denken zu hören. Wenn meine Mutter ihre noch in Mecklenburg lebenden Geschwister besucht hätte, hätte er das erfahren, er stand ihr am nächsten und war seit dem Tod meiner Großeltern die Schaltzentrale aller Neuigkeiten der Retzlaffs. Oder war auch das eine Lüge, ein weiterer Mythos?
    Vielleicht, ja. Vielleicht hatte es die glücklichen Pfarrerskinder, die zusammen spielten und Streiche ausheckten und durch Pech und Schwefel gingen, ja nur in den Gutenachtgeschichten meiner Mutter gegeben, und in Wirklichkeit prägten geheime Allianzen, Verletzungen und Feindschaften die Verhältnisse der Geschwister. Vielleicht war es also vor allem der unbedingte, kollektive Wille, auf dem Mythos der glücklichen Familie zu beharren, der die neun Geschwister bis heute zusammenhielt, da die Wahrheit nicht sein durfte, ja schlicht nicht zu ertragen war.
    »Als junges Mädchen hat Dorothea die Störche geliebt. Vielleicht wollte sie sich einfach nur mit unserer alten Heimat verbinden.«
    »Im Januar gibt es keine Störche in Mecklenburg.«
    »Ich meinte das ja nur als Beispiel …«
    »Sellin«, unterbrach ich ihn. »Mama ist nach Sellin gefahren.«
    »Sellin? Aber das…« Mein Onkel verstummte.
    »Aber was?«
    Er antwortete nicht, weigerte sich, den Satz zu vollenden, egal, wie ich es auch versuchte, stattdessen begann er nach einigem Hin und Her über die Beerdigung zu sprechen.
    »Vielleicht sollten wir den Konfirmationsspruch deiner Mutter ins Zentrum der Trauerfeier rücken«, sagte er zum Abschied. »Den Psalm 37, mit dem schon deine Großmutter konfirmiert wurde. Was hältst du davon, das würde doch passen?«
    Und so ging es auch in den anderen Telefonaten weiter, die ich an diesem Januarabend führte, um weitere Onkel und Tanten über den Tod ihrer jüngsten Schwester zu informieren. Ich hörte Unglauben und Entsetzen und Schweigen. Meine Tante Elisabeth fing an zu weinen. Alle betonten ungefragt, welch ein Unheil Ivos Verlust für meine Mutter gewesen war, hielten es aber für ausgeschlossen, dass ihr eigener Tod etwas anderes als ein ebenso tragischer Unfall sein könnte wie damals Ivos. Zwei meiner Onkel zitierten zum Beweis dafür ihren Konfirmationsspruch. Und Sellin?, fragte ich ein ums andere Mal. Doch niemand hielt das für relevant, konnte oder wollte mir etwas dazu sagen oder war auch nur dazu bereit zu spekulieren, warum dies das Reiseziel meiner Mutter gewesen war.
    Es war nach einundzwanzig Uhr, als ich mein Handy schließlich in meine Hosentasche schob, ebenso hätte es bereits Mitternacht oder noch Nachmittag sein können, ich hatte jeglichen Bezug zur Zeit verloren. Ich machte mich auf die Suche nach Othello, der sich aber offenbar wieder in Luft aufgelöst hatte. Vielleicht gab es ihn ja auch gar nicht wirklich, vielleicht gab es überhaupt nichts von dem, an das ich immer geglaubt hatte, nicht einmal diese Nachtmutter mit ihren geflüsterten Geschichten, die mir früher am Bettrand erschienen war.
    Ich ging in die Küche, füllte dennoch den Fressnapf des Katers mit Trockenfutter, brach ein paar Eiswürfel aus dem leeren Gefrierfach in ein Wasserglas und goss es zur einen Hälfte mit Wodka und zur anderen mit Red Bull aus der Dose auf, die ich im Mekong gekauft hatte. Dösi nannten wir dieses Gebräu auf der Marina. Ein anständiger Dösi war eine der Geheimwaffen der Crew, denn er konnte binnen kürzester Zeit selbst Halbtote wieder in die Senkrechte befördern und

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