Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
dazu befähigen, ihren Job oder welche Herausforderung auch immer durchzustehen. Ich wappnete mich für den Geschmack, den ich noch nie gemocht hatte, trank den ersten Schluck wie Medizin, dann den zweiten, fühlte den Kick des Alkohols fast augenblicklich.
Bleibe fromm und halte dich recht; denn solchen wird’s zuletzt wohl ergehen,
lautete der Konfirmationsspruch meiner Mutter – ein geradezu zynischer Ratschlag, wenn man sich ihre letzten Lebensjahre und das Ende vor Augen führte. Ich schaltete das Licht wieder aus, damit ich die glücklichen Kindergesichter auf dem Kühlschrank nicht länger ansehen musste, und setzte mich mit meinem Drink an den Küchentisch. Irgendwo tickte eine Uhr, durchs Fenster huschten erneut die Fernsehschemen der Nachbarn. Nach einer Weile fühlte ich mehr, als dass ich es sah, wie Othello zu seiner Schüssel schlich, danach übertönte das leise Knacken, mit dem die Fischcracker zwischen seinen Zähnen zersplitterten, eine Zeit lang die Uhr.
Ich saß, ohne mich zu bewegen, und dachte an die Reaktionen meiner Verwandten, die in den letzten Stunden auf mich eingestürmt waren, und daran, dass ich zwischen all den Beileidsbekundungen, Fragen, Emotionen und Erklärungen noch etwas anderes gespürt hatte. Eine stumme Warnung vielleicht, ein Bis-hier-und-nicht-weiter. Ein großes Schweigen, das es wahrscheinlich schon immer gegeben hatte. Aber ich hatte es nicht bemerkt, weil es so perfekt zwischen all den Legenden und Anekdoten verborgen war.
Etwa hundertachtzig Kilometer lagen zwischen Berlin und Sellin, zwei, maximal drei Stunden Autofahrt, sicherlich existierte auch eine Zugverbindung, zumindest bis nach Güstrow. Man konnte an einem Tag hin und wieder zurück fahren, jedenfalls wenn das Wetter normal war. Doch das Wetter war nicht normal, und die Möglichkeit, die mir einfiel, diese Reise in nächster Zeit dennoch zu unternehmen, würde wehtun. Falls es diese Möglichkeit denn überhaupt noch für mich gab, falls diese Tür nicht für immer verschlossen war.
Ich trank meinen Dösi aus, stand auf, zog mich an. Schnell, um den Mut nicht zu verlieren. Hatte es geschneit, als meine Mutter sich zu ihrer letzten Reise aufgemacht hatte? Wohl nicht, denn dann wäre sie in Berlin geblieben. Oder sie hatte dieses Risiko sogar willkommen geheißen, weil sie sowieso vorhatte zu sterben. Achtete man überhaupt noch aufs Wetter, wenn man im Begriff war, sich das Leben zu nehmen? Ich wollte nicht darüber nachdenken, wollte es gar nicht wissen, ich musste mich auf das, was vor mir lag, konzentrieren.
Die Kälte draußen war ein Schock nach den Stunden im Warmen. Der Schnee fiel so dicht, dass es unwirklich war. Ich zog mir den Hut in die Stirn, rammte die Fäuste in die Taschen meiner Jacke und lief durch die menschenleeren Straßen zur U-Bahn.
Theodor, 1923
Die Chaussee schmilzt zu einem Pfad, als sie in den Wald abbiegen, Sand und Schlamm ersticken das Klappern der Hufe. Theodor greift die Zügel fester und zieht die Peitsche über die Rücken der beiden mageren Klepper, die man ihnen geliehen hat. Elise sitzt neben ihm, stumm und blass, mit riesigen Augen. Er würde ihr gern zeigen, wie schön es hier ist, sie teilhaben lassen an allem, was er neulich, bei seiner ersten Fahrt in ihr neues Heim, so bewundert hat. Doch er braucht alle Kraft für die Pferde, denn durch den Dauerregen der letzten Wochen droht das Gefährt jeden Augenblick stecken zu bleiben, und schon wieder scheint sich der Himmel zu verdunkeln, dabei darf es doch gerade heute nicht regnen, weil sie keine Plane haben, ihren Hausrat zu schützen.
Nicht aufgeben, denkt er. Nicht anhalten. Nach vorn sehen und hoffen, nur noch wenige Kilometer. Die Gemeinde, die man ihm anvertraut hat, ist winzig. Ein Dorf und einige weit versprengte Gehöfte. Das Pfarrhaus liegt in einer Senke, etwas abseits von Kirche und Friedhof, umgeben von Wiesen und Buschwerk. Sehr hübsch, sehr idyllisch, vom Studierzimmer blickt man direkt auf den See, über dem nun im Oktober Wildgänse kreisen.
Der Wagen schlingert und neigt sich gefährlich zur Seite. Theodor lässt die Peitsche tanzen, sieht, wie die Gäule den Rücken krümmen, schafft es, sie wieder zu stabilisieren. Vorwärts! Weiter! Dort hinter der Biegung muss ihr Ziel doch nun liegen. Ihr erstes gemeinsames Heim, ihr neues, glückliches Leben. Und tatsächlich, so ist es, jetzt sind sie bald gerettet, denn der Wald gibt sie frei, man erkennt schon den Kirchturm. Keine Minute zu früh, denn
Weitere Kostenlose Bücher