Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
der Himmel wird schwarz, die ersten Tropfen prasseln auf sie nieder.
Weiter, nur weiter! Der Wagen schießt vorwärts, als Theodor erneut mit der Peitsche losdrischt, dann bringt ein gewaltiger Ruck ihn zum Halten, schleudert Elise fast vom Bock, lässt die Gäule sich aufbäumen. Theodor schlägt auf sie ein, hört ein Ächzen und Stöhnen. Ist das der Wagen oder sind das die Pferde? Er springt in den Schlamm, reißt an ihrem Zaumzeug, doch sie scheuen noch immer und rollen wild mit den Augen, und der Himmel scheint tiefer zu rutschen, wird erst Rauch und dann rot, wie ist das denn möglich, wenn es doch regnet?
Langsam, sehr langsam hebt Theodor den Kopf, dreht sich weg von den Gäulen, sieht, was vor ihnen liegt: kein Dorf, keine Kirche, nur bluttrunkenes Brachland und zerfetzte Leiber.
Er schreckt hoch, liegt mit rasendem Herzen im Dunkeln. Ein Traum, nur ein Traum hat ihn heimgesucht, nur die Nachtgespenster. Er hat sie nicht eingeladen, hat gehofft, dass sie ihm in sein neues Leben nicht folgen würden, vergebens, das weiß er nun. Sie sind mit ihm ins Pfarrhaus gezogen, lassen ihn nicht in Frieden.
Elise bewegt sich neben ihm, der Spitzensaum ihres Nachthemds kitzelt seine Wade. Er hört ihren Atem, spürt ihre Wärme. Vor drei Tagen haben sie Hochzeit gefeiert, nein, als Feier kann man das nicht bezeichnen. Bis zuletzt hatte Elise gehofft, ihre Eltern könnten dabei sein. Doch am Tag, als sie das Aufgebot bestellten, ist ihr Vater gestorben, und seitdem zogen die Preise noch einmal an, ein Bahnbillett kostet nun über 150 Milliarden Mark – zu viel für die Mutter, zu viel für alle.
Jetzt habe ich nur noch dich
, hat Elise am Tag der Beerdigung ihres Vaters geflüstert. Seine tapfere junge Frau, seine Liebe. Er riecht ihren Duft und weiß, dass dies Glück ist, das Glück, das er wollte, nach dem er sich verzehrt hat. Doch er schafft es dennoch nicht, sie an sich zu ziehen. Die Gespenster sind stärker, sie lähmen ihn.
Vielleicht ist es falsch von ihm, zu schweigen. Vielleicht sollte er Elise von dem Schlachtfeld bei Reims erzählen. Vom kopflosen, beinlosen Erich, der ihn gerettet hat. Von Vetter Hermann, den er gerettet hat. Von Tschaikowsky und von dieser plötzlichen, tosenden Stille inmitten des Höllenlärms, die ihm vorkam wie Gotteswerk. Aber ihm fehlen die Worte, vielleicht auch der Mut, und er will den Dämonen nicht noch mehr Macht geben, nicht auch noch bei Tag und in seiner Ehe.
Draußen maunzt ein Käuzchen und kündet vom Ende der Nacht. Weitere Geräusche dringen jetzt in sein Bewusstsein, zu fremd noch, um Heimat zu sein, doch er heißt sie willkommen. Etwas raschelt im Gras. Der Wind streicht ums Haus. Aus dem Baum vor dem Fenster fallen Kastanien, gleichmäßig wie zerrinnende Zeit.
Plopp. Plopp. Theodor starrt auf das Rechteck des Fensters und wünscht sich den Morgen herbei. Er denkt an Gott und an Richard und an die Seelen, die man ihm anvertraut hat. Bauernfamilien zumeist, die ungebildet und durch den täglichen Kampf um die Existenz so ausgelaugt sind, dass sie sich gefährlich weit vom rechten Glauben entfernen. Aber er wird sie zurückgewinnen, eine nach der anderen, und vor allem gilt es, die Kinder in Gottes Sinne zu bilden.
Fast wie im Traum fühlt er, wie sich beim ersten Hahnenschrei Elises Hand auf die Reise begibt. Sehr weich und sehr zart kriecht sie zu ihm unter die Decke, findet seine Rechte, schmiegt sich hinein, führt sie in ihre Wärme.
»Sind wir das wirklich, Theodor?« flüstert sie. »Kannst du mich fühlen?«
8. Rixa
Als ich Ivos Atelier erreichte, hatte der Dösi seine aufputschende Wirkung schon wieder eingebüßt, und der Frost biss sich unerbittlich durch meine Kleidung. Ich lehnte mich in den Windschutz der Einfahrt. Mein Herz hämmerte wild, meine Knie kamen mir weich vor. Die Autowerkstatt lag verlassen im Dunkeln, doch im Atelier brannte Licht, und in seinem Widerschein wirkten die im Schnee begrabenen Schrottteile und Autoleichen auf dem Hof wie bizarre Skulpturen. Über zwei Jahre war ich nicht hier gewesen, doch abgesehen vom Schnee schien alles unverändert.
Ich sah erneut hoch zum Atelier und erkannte Piets kahlköpfige Silhouette hinter einem der Fenster, neben ihm bewegte sich ein weiterer Mann, der sein Haar zum Pferdeschwanz gebunden hatte. Ivo! Mein dummes, trügerisches Herz schoss einen Freudenimpuls in mein Hirn, die augenblicklich folgende Enttäuschung traf mich wie ein Faustschlag. Ein paar Wochen nach Ivos Beerdigung war ich
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