Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
liebte auch seine Stimme. Kein Bariton, sondern ein tiefer Tenor, trotz seinem Gardemaß von 1,86 Meter.
»Ma wurde jedenfalls 1945 geboren«, sagte Alex. »Nach dem Krieg. Nach Hitler.«
Ich dachte an den Fuchspelz, der sie als Neugeborenes vor dem Erfrieren bewahrt hatte. An dessen ehemalige Besitzerin. An all die Toten, die mein Großvater bestattet hatte. Bei Kriegsende war er zwei Jahre jünger gewesen als Alex jetzt, beim zweiten Kriegsende, das er erlebte. Kriegsende. Waffenstillstand. Frieden, was genau hieß das? Es gab keine Hakenkreuzfahnen mehr, keine Konzentrationslager, keinen Führer. Irgendwann zogen auch keine Flüchtlingstrecks mehr durch Mecklenburg und keine Armeen, und es gingen wohl auch keine Familien aus Angst vor den Russen mehr ins Wasser. Aber die Menschen starben noch immer. Und mein Großvater musste den Übriggebliebenen Trost und Zuversicht spenden, und er rang mit den neuen Machthabern, die in Mecklenburg keine Freiheit brachten, sondern eine weitere Diktatur, um die Berechtigung seiner Kirche. Neue Kinder kamen auf die Welt, die er taufte und konfirmierte, so wie meine Mutter. Seine jüngste Tochter. Das Gottesgeschenk. Sie musste den Krieg und den Irrsinn der NS-Diktatur noch gefühlt haben. Nichts war vorbei, bloß weil niemand mehr schoss und Hitler zujubelte und keine Bomben mehr fielen. Bloß weil alle versuchten, was gewesen war, zu verdrängen.
Ich trank meinen Wein aus und schenkte uns nach. Alex hob sein Glas und tippte es gegen meines.
»Auf unsere Mutter.«
»Und auf Ivo.«
»Und auf Ivo.«
»Fehlt er dir manchmal?«
Alex sah an mir vorbei zum Kühlschrank, wo unsere kindlichen Geister-Alter-Egos unbeirrt lachten.
»Schon komisch, oder? Früher konnte ich mir gar nicht vorstellen, tatsächlich einmal ohne Ivo und dich zu leben, obwohl ihr zwei Kleinen mich so oft genervt habt.«
»Und jetzt geht es doch.«
»Ja.«
Wir stießen noch einmal an, versuchten uns an einem halbironischen Lächeln.
»Weißt du noch, unser Tauchspiel?«
»Aber klar.« Sein Gesicht wurde weicher. »Und das Hühnerorakel.«
»Da hat Ivo fast immer gewonnen.«
Wer war an der Reihe, die Eier fürs Frühstück zu sammeln? So hatte das angefangen. Eine alltägliche Aufgabe, um die wir uns in Poserin dennoch leidenschaftlich stritten, weil sie für uns Stadtkinder so exotisch war. Durch das taunasse Gras in den Hühnerstall laufen. Das leise Gackern und Glucksen verschlafener Hennen. Ihr Geruch. Warmer feuchter Kot im Halbdunkel unter unseren nackten Füßen. Warmes Stroh in den Nestern, die sich in Holzfächern entlang der Wände verbargen, neben- und übereinander aufgereiht wie am Schlüsselbrett einer Hotelrezeption.
Nicht fallen lassen, das Körbchen, Kinder. Und die Eier nicht drücken. Ganz vorsichtig müsst ihr in die Nester fassen. Schön langsam, ein Fach nach dem anderen. Nicht in jedem Fach liegt jeden Tag ein Ei. Die Hennen sind wählerisch, manche auch launisch.
Wir begannen uns abzuwechseln, machten ein Spiel daraus. Einer fängt an. Wer richtig vorhersagt, in welchem Fach ein Ei liegt, darf gleich noch ein zweites Mal suchen. Wer richtig vorhersagt, dass in einem Fach zwei Eier liegen, darf sich etwas wünschen. Und wenn man den Wunsch nicht verrät, geht er in Erfüllung.
»Ivo hat manchmal gemogelt«, sagte Alex.
»Das glaub ich nicht.«
»Doch, hat er. Ich hab ihn einmal dabei erwischt, mit einem Ei in der Hand. Er hat behauptet, er wollte es in dein Lieblingsfach legen, für dich, aber es sah eher nach dem Gegenteil aus.«
»Ah ja?«
»Er war kein Heiliger, Rixa.«
»Das weiß ich, aber –«
Ganz hinten, links unten – mein Lieblingsfach. Das wusste Ivo natürlich. Warum? Weil ich im ersten Sommer einmal drei Eier darin entdeckt hatte. Weil die Perlhühner so gern darin saßen, die ich am schönsten fand.
Gewonnen, ich hab gewonnen!
Ivos Gesicht, wenn er das verkündete. Triumph und Unschlagbarkeit in jeder Pore.
»Ich kann jetzt nicht mehr, ich muss mich dringend aufs Ohr hauen.« Alex stand auf und setzte sein Glas in die Spüle.
»Du kannst Mamas Bett nehmen, ich bezieh dir das eben.«
»Das mache ich selbst, ich kenn mich ja aus hier.«
Ich hatte kein Bettzeug im Wohnzimmer, auch keinen Schlafsack, nur eine Wolldecke – aber das fiel mir erst später auf, als Alex schon schlief. Er hatte meine Mutter besucht und bei ihr übernachtet, wenn er in Deutschland war. Einmal hatte er meiner Mutter eine neue Waschmaschine gekauft, ein anderes Mal einen
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