Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Kinder zunächst dafür verwenden, die Beerdigungskosten und die Auflösung meiner Wohnung zu finanzieren. Was dann noch übrig ist, möchte ich dem Katzenschutzverein Pfötchen in Berlin Friedenau vermachen. Es wäre schön, wenn das Pfarrhaus von Sellin in Familienbesitz bliebe. Heimat ist vielleicht ein zu großes Wort, doch es ist mir ein Anliegen, dass meine beiden Kinder, Alexander und Ricarda, das Haus als Basis und Rückzugsort nutzen. Einen etwaigen Verkauf sollten sie nur gemeinsam und einstimmig beschließen, und frühestens ein Jahr nach meinem Tode.«
Dr. Gruber hielt inne und räusperte sich. Alex und ich nickten mechanisch, im identischen Rhythmus, wie diese Wackeldackel, die wir früher in den Rückfenstern vorbeigleitender Autos bewunderten.
»Das Haus ist nicht mit einer Hypothek belastet. Die Vorbesitzerin hat es von der evangelischen Kirche erworben. Der Verkauf an Ihre Mutter erfolgte nach einer gewissen Grundsanierung durch die Vorbesitzerin vor zwei Jahren für 110 000 Euro. Das ist bezahlt, wie gesagt, Sie erben das Haus also schuldenfrei.«
»Wie hat unsere Mutter das finanziert, sie besaß doch kein Vermögen?«, fragte Alex.
»Das weiß ich leider nicht.« Dr. Gruber sah tatsächlich aufrichtig bekümmert aus. »Über die Kaufmodalitäten wollte Ihre Mutter nicht mit mir sprechen. Auch nicht über die Verkäuferin übrigens. Vielleicht hilft Ihnen aber der Grundbuchauszug weiter.«
Papiere raschelten. Er blätterte in einer Mappe und schob uns eine DIN-A4-Seite hin. Der Kaufpreis stand darauf. Der Name der Vorbesitzerin. Eine Amerikanerin, hatte Moni gesagt und damit ganz offenbar recht gehabt. Ann Millner hieß sie, wenn der Grundbucheintrag korrekt war, wohnhaft in New York. Was hatte sie dazu bewogen, ein Pfarrhaus in Sellin zu erwerben und dieses dann an meine Mutter zu verkaufen? Und – viel wichtiger noch – warum wollte meine Mutter dieses Haus, über das sie und ihre Eltern und Geschwister ihr Leben lang geschwiegen hatten, auf einmal besitzen, und wie konnte sie es bezahlen?
Elise, 1932
Das leise geflötete hohe C schwebt durchs Kirchenschiff. Elise hebt den Taktstock. Fünfzehn blank gewienerte Kindergesichter wenden sich ihr zu, unten auf dem Altar leuchten die herrlichen Sträuße aus Mohn und Levkojen, die sie heute schon vor dem Frühstück gebunden hat. Der Klützer Kinderchor ist bereit für seinen ersten Auftritt, und ganz vorn, auf einem kleinen Podest, steht seine Solistin. Ihre Große, Amalie, so niedlich und sauber mit den weißen Kniestrümpfen und dem neuen Kleidchen aus hellblauem Leinen.
Stille breitet sich aus, unten in den gut besetzten Kirchenbänken ebenso wie hier oben auf der Empore. Die Gemeinde wartet, alle warten: die Chorkinder; der Organist; Theodor; sie selbst. Sing, Mädchen, sing, fleht Elise stumm. Doch ihre Tochter steht reglos mit fest verschlossenen Lippen, und der Flötenleitton verklingt, ohne dass sie daran anknüpft.
Die Stille wird lastender, schwerer. Eins der Chormädchen beginnt zu kichern, doch ein mahnender Blick Elises ruft sie sogleich wieder zur Ordnung. Warum singt ihre Tochter nicht, warum tut sie ihr das an? Warum kann sie nicht einmal, ein einziges Mal, ohne Wenn und Aber gehorchen? Sie weiß doch genau, dass sie heute ihr erstes Jahresjubiläum in Klütz feiern. Natürlich ist das nichts, das sie an die große Glocke hängen, das wäre zu eitel. Aber Theodor ist es doch wichtig und auch sie ist stolz darauf, wie gut sich alles entwickelt hat. Und auch ihre Gönner, Landrat Petermann und Probst Becker, wohnen dem heutigen Gottesdienst bei, um mit ihnen zu feiern, das gibt es auch nicht alle Tage. Wieder und wieder haben sie Amalie das erklärt. Und was macht sie stattdessen? Nun schließt sie auch noch die Augen, als wolle sie ihre Mutter und ihre Umgebung vollkommen ausblenden, und ihr hübsches Gesichtchen ist vor lauter Starrsinn ganz verkniffen.
Der Dirigierstab zittert in Elises Hand. Wie soll ihre Tochter denn jetzt noch den richtigen Ton treffen, nach der langen Pause? Natürlich kann man ein weiteres C vorgeben, mit der Flöte, der Orgel, der Stimmgabel. Aber das werden dann alle hören und auf diese Weise endgültig bemerken, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, dass die neue Frau Pfarrer nicht nur nicht firm an der Orgel ist, sondern auch an der Leitung des Kinderchors scheitert. Theodors Idee war das, dass seine Tochter das Solo singt, ihm zuliebe hat sie sich darauf eingelassen. Er hat ja schon
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