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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Stuhl, den auch ich in den letzten Tagen gewählt hatte, vielleicht war das ein Zeichen unserer Verwandtschaft. Blut, das verbindet. Nähe, die trotzdem zerbrechen kann. Meine Mutter auf diesem Stuhl, ihr gegenüber Othello oder niemand. Tag für Tag, Abend für Abend. Wochen. Jahre. Alex musste das gewusst haben, genau wie ich. Gewusst und verdrängt. Vielleicht hatten wir deshalb den Kontakt zueinander verloren. Weil es leichter ist, Schuldgefühle zu vergessen, wenn man allein ist und so weit weg vom Ort seines Vergehens wie möglich.
    Alex und ich waren schon einmal die einzig existierenden Hinrichskinder gewesen, plötzlich fiel mir das ein. Ganz am Anfang, bevor Ivo überhaupt geboren war. Aber diese Lebensphase lag außerhalb meines bewussten Erinnerungsvermögens, ich wusste nur theoretisch, dass es sie gegeben hatte. Wir waren im selben Taufkleid getauft worden, von unserem Großvater. Später hatte ich von Alex sein Dreirad geerbt, dann sein erstes Fahrrad, wie wahrscheinlich schon Strampelanzüge und Windeln und Pullis. Wir hatten nackt gemeinsam in der Badewanne mit seinen Plastikbooten und Fischen gespielt und die Brothäppchen verputzt, die meine Mutter uns auf Brettchen am Wannenrand servierte. Die mit Schmierkäse mochten wir beide am liebsten.
    Die Minuten im See, seine Hand, die mich festhielt, auch seine, nicht nur Ivos. Sein Körper an meinem, in der Nacht nach Ivos Tod. Sein versteinertes Gesicht am nächsten Morgen, das ich nur verschwommen wahrnahm. Er hatte mich seitdem nie mehr umarmt oder meine Hand gehalten. Aber vielleicht gab es den großen Bruder aus meiner Kindheitserinnerung ja doch noch. Vielleicht war all das Schweigen, das seit Ivos Tod auf uns lastete, nur ein Missverständnis gewesen. Und vielleicht hatte Alex tatsächlich keine Zeit gehabt, früher nach Deutschland zu kommen als heute, und er hatte mich anrufen wollen, bevor er ins Flugzeug stieg, und in London und Singapur hatte sein Handy nicht funktioniert. Es war nicht sehr wahrscheinlich, aber immerhin möglich.
    »Alex, ich –.«
    Er blickte vom Tisch auf, sah mir für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen.
    »Es ist gut, dass du da bist.«
    »Wann haben wir morgen den Anwaltstermin?«
    »Um zwölf.«
    »Und wie kommen wir nach Köln?«
    »Mit dem Zug. Es gibt eine ICE-Verbindung, einmal pro Stunde.«
    Ich drehte mich zum Herd und füllte unsere Teller. Früher hatten Ivo und ich manchmal heimlich mit Alex’ Sachen gespielt, am liebsten mit den Gummigespenstern, die er in einem Schuhkarton unter seinem Bett verwahrte. Glibberige Monstergestalten waren das, man konnte sie sich über die Finger stülpen, und dann wirkte es, als ob sie lebendig wären und sich im Rhythmus unserer Hände bewegten. Wenn Alex uns erwischte, wurde er manchmal so zornig, dass er heulte, und dann nahm ihn unsere Mutter zur Seite und tat irgendetwas, damit er einlenkte und wir uns wieder vertrugen, und am Ende spielten wir zusammen, das war am schönsten, jedenfalls für uns Kleine.
    ›Wir sollen auch unser Leben für die Brüder lassen.‹
Zwischen den wenigen Briefen meines Großvaters, die meine Mutter aufgehoben hatte, hatte ich dieses Bibelzitat aus dem Johannesbrief gefunden. In Sütterlinschrift, als Kopfzeile einer schreiend verkitschten Todesbenachrichtigung mit Engel. Das Papier war schon brüchig, doch die Farben noch kräftig.
    ›Gefreiter Richard Retzlaff, gefallen in der Champagne am 26. September 1915. Er starb fürs Vaterland.‹
Mein Urgroßonkel, mein Namenspate. Meiner und der meines Onkels Richard. Wie hatten meine Urgroßeltern den Tod ihres ältesten Sohns verkraftet? Und wie mein Großvater? Richard war sein Lieblingsbruder gewesen, er hatte seinen ersten Sohn nach ihm benannt, doch er hatte kaum je von diesem erstgeborenen Richard gesprochen. Nicht mit uns Enkeln jedenfalls, und ich glaube auch nicht mit seinen Kindern.
    Ich trug unsere Teller zum Tisch und setzte mich Alex gegenüber. Ich sah ihn an und versuchte zu ergründen, wie es ihm ging, was er fühlte. Sein Blick wich mir aus. Seine Hände bestrichen eine Scheibe Brot mit Butter.
    »Warum hast du mich nicht noch mal angerufen, Alex?«
    »Das hätte doch nichts gebracht. Und jetzt bin ich ja da.«
    »Es wäre trotzdem gut gewesen. Fair. Dann hätte ich mich nicht so allein gefühlt.«
    Er begann zu essen. Langsam. Methodisch. Er hatte nicht geweint, als Ivo gestorben war. Kein einziges Mal, jedenfalls nicht in meinem Beisein. Weil er nicht um ihn trauerte? Oder

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