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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Ich hatte mich daran gewöhnt, ich war abgestumpft. Und trotzdem weigerte sich irgendetwas in mir hartnäckig, ihren tatsächlichen Tod zu begreifen.
    Ihre hektische, hohe Stimme in der Kirche von Sellin.
Guck mal, das Paradies, Ricki. Und da, die beiden Nackten, die lächeln.
Ich schloss die Augen. Es hatte Streit gegeben, Streit zwischen zwei Frauen. Dort in der Kirche, am Tag unseres Ausflugs, inzwischen glaubte ich, mich tatsächlich daran zu erinnern. Streit zwischen wem, meiner Mutter und meiner Großmutter? Aber warum und worüber? Und warum überhaupt hatten sie mich mit nach Sellin genommen, was hatte das zu bedeuten?
Du bist nicht meine Tochter.
Dieser Satz hatte mich beinahe zerrissen, war mir schier unerträglich.
Du hast versagt, du hast mich enttäuscht, deshalb bist du nicht länger meine Tochter
, bedeutete er für mich. Die Schuld der Tochter, ihre Urangst vielleicht: der Mutter so ähnlich zu sein, so nah, und ihr doch nie genügen zu können. Größer zu werden als sie. Klüger. Schöner. Stärker. Anders.
    Ich öffnete die Augen wieder und schob meinen Teller beiseite, so heftig, dass Alex zusammenzuckte. Ich hatte sie glücklich machen wollen, nein, müssen, ihr durch meine pure Existenz eine Last von den Schultern nehmen, das war meine Aufgabe. Deshalb, nur deshalb ließ ich mich von ihr dazu überreden, immer alleine zu schlafen. Deshalb hielt ich mich an ihr Gebot, niemandem von ihren nächtlichen Besuchen in meinem Zimmer zu erzählen. Doch es hatte nicht gefruchtet, sie war trotzdem nicht froh geworden und trotzdem gestorben, und die Geheimnisse, die sie in mein Haar gehaucht hatte, waren allenfalls Halbwahrheiten gewesen, wenn nicht gar Lügen.
    »Ma hat sich wegen Ivo umgebracht, Rixa, das ist dir doch klar?«, sagte Alex. »Sie hat seinen Tod nicht verkraftet, sie war wie besessen von ihm.«
    »Das weiß ich, ja. Aber sie hat vor zwei Jahren dieses Haus in Sellin gekauft, von welchem Geld auch immer. Weil sie in diesem Dorf, in genau diesem Haus, früher mal gelebt hat. Und was ist mit Othello? Man schafft sich doch keine Katze an, wenn man vorhat zu sterben.«
    »Sie war depressiv, sie hat Medikamente genommen – Schlaftabletten und Antidepressiva –, und das schon ziemlich lange. Dass sie sich dann plötzlich umbringt, kann eine Kurzschlusshandlung gewesen sein, irgendwelche Synapsen, die falsch schalten und –«
    »Acht Jahre Leben, Alex, acht Jahre Familiengeschichte: einfach unterschlagen. Nicht nur von ihr, sondern von allen. Selbst jetzt, wo sie tot ist, will niemand darüber sprechen.«
    Ich stand auf und nahm die Fotos vom Kühlschrank, legte sie auf den Tisch.
    »Opa war wahrscheinlich Nazi, hast du das gewusst?«
    »Nein, zum Teufel.« Alex starrte mich an. »Hieß es nicht früher, sie hätten im Pfarrhaus Juden versteckt?«
    »Irgendwer hat das mal erwähnt, ja. Bei irgendeinem Familientreffen. Aber nicht unsere Mutter. Und er selbst hat nie über den Nationalsozialismus gesprochen.«
    Alex trank einen Schluck Rotwein. Studierte die Fotos. Legte sie wieder hin. Griff erneut nach seinem Glas. Ein Film könnte so anfangen, dachte ich, und fühlte mich auf einmal wieder unendlich müde. Oder ein Roman. Eine von zigtausend immergleichen deutschen Geschichten: Die Nachfolgegeneration kommt zusammen und erforscht ihre Familiengeschichte und – große Verblüffung – auch die geliebten Großeltern waren einmal Nazis gewesen. Oder die Eltern, je nach Alter.
    »Ein Hakenkreuz in der Kirche, vielleicht war das damals ja Pflicht?«
    »Ja, vielleicht. Aber es gab doch auch Pastoren im Widerstand. Niemöller, Bonhoeffer. Die Bekennende Kirche.«
    Ich betrachtete die Fotos, las die Bildunterschrift zum wohl hundertsten Mal:
Mit Wilhelm Petermann und Kameraden
. Wo war das aufgenommen worden, vor welcher Kirche? Nicht in Sellin, trotzdem stellte ich mir meinen Großvater dort vor. In dieser Kirche, über deren Altar das Jüngste Gericht die Sünder verdammte. Auf dem Friedhof, wo er im letzten Kriegsjahr laut Auskunft meiner Mutter die Gräber der Selbstmörder segnete. Hatte er damit aufgehört, ihnen ein christliches Begräbnis zu verweigern, weil er selbst mit dem Gedanken spielte, sich zu richten? Für welche Sünde? Und wo war sein Gott, bat er den um Vergebung?
    Theodor Retzlaff, mein Großvater. Er hatte mich geliebt. Und ich liebte ihn auch, liebte und bewunderte ihn. Ihn und seine Geschichten. Seine Liebe zur Musik. Seine Geduld, wenn ich ihm vorspielte oder mit ihm sang. Ich

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