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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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weinte er heimlich? Vielleicht war es das, was zwischen uns stand. Ich verzieh ihm diesen Mangel an Trauer nicht. Meine Schuld also, dass wir uns seitdem nur noch so verhielten wie Fremde. Dass in jedem Satz und in jeder unserer Pausen eine zweite Bedeutung mitschwang, ein Misston. Unhörbar, aber dennoch vorhanden.
    Wir waren als Kinder in Mecklenburg auf so selbstverständliche Weise geborgen gewesen. Zugehörig. Teil der fünf Hinrichs und zugleich Teil der riesigen Retzlaff-Familie, diesem Netzwerk aus Großeltern, Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen. Natürlich war nicht immer alles eitel Sonnenschein. Alex war schon früher ein Eigenbrötler, Ivo und ich die Unzertrennlichen, die zwei kleinen Träumer. Aber es gab auch eine Alex-und-Ivo-Welt, zu der mir der Zutritt verwehrt war. Nachts, nach dem Abendbrot, dann teilten Ivo und Alex ein Zimmer, und ich musste allein schlafen oder auf einem Beistellbett im Schlafzimmer meiner Eltern – egal wie heftig ich auch dagegen protestierte.
    Aber Ricki, mein Mädchen, ich habe dir dein Bett doch so schön hergerichtet. Und schau, die Blume auf dem Nachttisch, die ist nur für dich.
    Es waren nicht die Argumente meiner Mutter, es war ihre Enttäuschung, die mich schließlich einlenken ließ. Sie brauch-te mich. Sie meinte es gut mit mir, und ich tat ihr weh.
    Die Jungs sind anders als wir, Ricki. Man muss sie
manchmal lassen. Aber wir beiden Frauen, wir haben auch unseren
Spaß und unsere Geheimnisse, nur wir beide, mein Mädchen, nicht
wahr?
    Doch ich liebte die Welt meiner Brüder. Ihre Spiele, ja sogar den immer etwas säuerlich-muffigen Geruch, der in ihren Ferienschlafzimmern hing. Die Welt meiner Brüder war das Reich der Gummimonster und Kissenschlachten und zu Spießen geschnitzten Stöcke und mysteriösen Schätze, die vor allem Alex nach einem langen Tag draußen aus seinen Hosentaschen pulte: mumifizierte Spinnen in ausrangierten Pillendosen. Rostige Nägel, die ineinander verschlungen waren. Die Zähne und Knochen unbekannter Tiere, die er, wieder daheim, sorgfältig vermaß und katalogisierte, und die Ivo, wenn er gute Laune hatte oder wenn Alex ihm dafür ein Eis versprach, für ihn in ein unliniertes Oktavheft abzeichnete.
    »Ma hatte also mal wieder eine Katze«, sagte Alex, nachdem wir eine Weile stumm unsere Suppe gelöffelt hatten.
    »Othello, ja.«
    »Und wo ist der jetzt?«
    »Irgendwo hier, er ist etwas speziell und kann sich in Luft auflösen, sodass man nicht mehr weiß, ob er eigentlich existiert.«
    »Und was willst du jetzt mit diesem extravaganten Mitbewohner machen?«
    Du, sagte er, nicht wir. Ich biss meinen Ärger zurück, ließ das so stehen.
    »Ich weiß es nicht. Ich habe beim Katzenschutzverein angerufen, die haben aber abgewinkt. Sie könnten so kurz nach Weihnachten keinen anderen Pflegeplatz für ihn auftreiben. Außerdem wollte Mama ihn wohl behalten.«
    »Ma und die Katzen. Ein nie endendes Kapitel.«
    »Ihre Art der Wiedergutmachung für all die armen Viecher, die unser Großvater im Laufe der Jahre ertränkt und erschlagen hat.«
    »Was ist denn das für ein Schauermärchen?«
    »Kein Märchen, sondern ein Zitat.«
    »Von wem?«
    »Von unserer Mutter.«
    »Wann bitte soll sie das denn gesagt haben?«
    »Früher, nachts, wenn ihr Jungs schon geschlafen habt. Sie ist dann manchmal an mein Bett gekommen und hat mir solche Geschichten aus ihrer Kindheit ins Ohr geflüstert. Ich glaube, sie musste Opa sogar helfen, die Katzen zu fangen und in einen Sack zu stecken, bevor er sie tötete.«
    »Sie kam an dein Bett? Ihr habt euch doch immer nur gestritten.«
    »Nicht, als ich noch klein war.«
    »Das erzählst du jetzt aber zum ersten Mal.«
    »Ich weiß, Mama wollte das so, und ich –«
    Er sah mich an, abschätzend, forschend. Wahrscheinlich musterte er so auch seine Muscheln und Korallen und Fische. Doch als er weitersprach, klang seine Stimme plötzlich weicher.
    »Du hast manchmal nachts ganz furchtbar geweint und geschrien und uns damit alle geweckt, daran kann ich mich noch erinnern.«
    »Wenn ich schlecht geträumt hatte, ja.«
    »Kein Wunder, nach solchen Geschichten …«
    »Ich weiß nicht, ob das an diesen Erzählungen lag. Ich hatte eigentlich immer nur denselben Traum.«
    »Nämlich?«
    »Dass Mama stirbt. Dass sie sich einfach auflöst.«
    Damals schon, damals. So viele Jahre vor Ivos Tod. Erst in diesem Moment gestand ich mir das wirklich ein. Seit ich denken konnte, hatte ich ihren Tod geträumt, wieder und wieder.

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