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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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recht, das Mädchen kann wirklich singen. Aber sie kann sich nicht einfügen in die Gemeinschaft der anderen, und die Texte vergisst sie auch immer mal wieder, und die Disziplin –.
    »Geh aus mein Herz und su-u-ch-he Freud …«
    Amalie singt, singt nun tatsächlich doch noch ihr Solo. Ohne die Augen zu öffnen und auf Elise oder das Notenblatt zu achten. Aber im richtigen Takt, und – soweit das ohne Begleitung feststellbar ist – in der richtigen Tonhöhe. So hell und so rein klingt ihre Stimme, dass die anderen Chorkinder mit offenen Mündern gaffen, und aus dem Kirchenschiff glaubt Elise ein leises Seufzen zu hören, aber dann wird es unten sofort wieder mucksmäuschenstill. Anders still als zuvor, aufmerksamer, ja fast andächtig.
    Elise wirft einen Blick auf den Organisten. Seine Finger liegen einsatzbereit auf den Tasten, seine Augen ruhen erwartungsvoll auf ihrer singenden Tochter. Wenn die jetzt bloß nicht nachlässt und die anderen Kinder nicht patzen. Doch Elises Sorge ist zumindest dieses eine Mal völlig unbegründet. Kurz bevor ihr Solopart endet, öffnet ihre Tochter die Augen und blickt ebenfalls zum Organisten, ja fast sieht es so aus, als gebe sie ihm das Zeichen für den Einsatz, als richte er sich nach ihr, schnell hebt Elise wieder den Dirigierstab, und brav fallen auch die anderen Kinder ein, und schließlich, bei der letzten Strophe, auch die Gemeinde.
    »Erwähle mich zum Paradeis, und lass mich bis zur letzten Reis’ an Leib und Seele grünen …«
    Ja, denkt Elise und fühlt in sich eine jähe, heiße Freude, so soll es sein, dieses Leben, so prall und lebendig wie an diesem schönen Junitag, ein Blühen und Streben nach dem Guten, und nun erscheint schon Theodor auf der Kanzel. Fast unmerklich nickt er ihr zu, während er seinen Predigttext vor sich ausbreitet, aber sie sieht es doch, sieht auch das stolze Lächeln, das seine Lippen umspielt. Es war ein Wagnis, den neu formierten Kinderchor bereits auftreten zu lassen, und dann gleich noch mit der eigenen Tochter in so exponierter Rolle. Aber Theodor hat sich durchgesetzt, gegen ihre Bedenken, und er hatte recht, sie haben auf diese Weise tatsächlich ein eindrückliches Zeichen gesetzt: Unsere Jugend ist noch nicht verloren, genauso wenig wie unser Vaterland, lautet die Botschaft. Es gibt Hoffnung, sie ist nach der langen Dunkelheit sogar in greifbare Nähe gerückt, und er als Pfarrer steht hier in Klütz mit seiner ganzen Familie an der Spitze dieses Aufbruchs, ist der Gemeinde, die sich in seiner Obhut befindet, ein Vorbild.
    Die kleinen Sänger verstummen und huschen auf Zehenspitzen zurück in die Bänke. Holz knarrt, als sich nun auch die Gemeindemitglieder zur Kanzel wenden, dann erfüllt Theodors schöner Tenor jeden Winkel der Kirche.
    »Liebe Gemeinde, in unserer Hauptstadt Berlin ist etwas in Bewegung gekommen, das unsere Aufmerksamkeit verdient, ja, unsere Unterstützung. Nicht nur im Reichstag weht seit einiger Zeit frischer Wind, sondern auch in unserer Kirche. Eine neue Bewegung evangelischer Christen formiert sich. Eine Glaubensbewegung, die sich einmischen will in die Politik und dabei doch ganz bei unserem preußischen deutschen Glauben und unserem Herrn Jesus Christus bleibt. Deutsche Christen nennen sie sich. Darüber möchte ich heute zu Ihnen sprechen. Über die Pflichten und Hoffnungen eines evangelischen Christenmenschen in Zeiten des Aufbruchs.«
    Theodor hält kurz inne und blickt zum Altar. Marmorne Säulen umrahmen das Gemälde des gekreuzigten Jesus, doch die Alabasterengel bringen Licht und Hoffnung in die düstere Szene, vor allem die Putten im oberen Teil, die mit ihren fetten Ärmchen zu winken scheinen, eines bläst zudem mit vollen Backen in eine Posaune. Ein schönes Bild ist das, denkt Elise und lächelt, und die Sommersonne flutet durch die Fenster, vielleicht fahren wir heute Nachmittag noch nach Boltenhagen zum Baden. Und natürlich ist Theodors Pause dramaturgisch perfekt gesetzt. Er hat lange an dieser Predigt gefeilt, hat sie ihr gestern Abend mehrfach vorgetragen, bis er endlich damit zufrieden war. Zum Glück haben die Kinder so lange Ruhe gegeben, sogar Elisabeth, obwohl die heftig zahnt. Ein liebliches Wesen hat sie. Von Anfang an war sie viel friedlicher und umgänglicher als ihre große Schwester.
    »Liebe Gemeindemitglieder, Politik und Glaube – geht denn das zusammen? Und dürfen wir überhaupt noch einmal mit einer neuen politischen Kraft Hoffnung schöpfen, dass sich in

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