Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
Kühlschrank. Er hatte Lampen und Regale für sie montiert. Er hatte es ausgehalten mit ihr, zwischen den Relikten aus unserer Kindheit, in dieser Wohnung. Einmal im Jahr, für eine Woche. Er hatte auch unseren Vater und Kornelia und die beiden neuen Hinrichskinder besucht. Florentine und Felix, was für alberne Namen.
Ich holte die Weinflasche aus der Küche, setzte mich auf die Fensterbank und sah zu, wie der Wind, der angeblich den Frost vertreiben würde, das rostige Licht der Straßenlaterne wiegte. Mir fehlte der Maiglöckchenduft, als ich mich schließlich doch noch aufs Sofa legte und die Wolldecke über mich zog. Mir fehlte so vieles.
Kaffeeduft weckte mich. Radiogedudel. Othello über mir auf der Sofalehne, seine runden gelben Augen. Aufmerksam. Unergründlich. Er schnurrte sogar, ließ sich aber nicht streicheln. Neun Uhr. Nacht, wenn ich meinem Zeitgefühl traute. Wann war ich eingeschlafen? Spät, sehr spät, und im Traum war ich in Sellin gewesen. Das Höllentier fletschte die Zähne, die bloßen Finger der Sünderlein kratzten an den Luken, die sie doch nicht in den Himmel führten, und draußen im Schnee zwischen den Gräbern stand mein Großvater in SA-Uniform und salutierte.
Ich wickelte mich in die Decke und tappte ins Bad und dann in die Küche.
»Kaffee?«
»Unbedingt, ja.«
Alex schob mir einen Becher hin. Er hatte auch Brötchen geholt und den Tisch gedeckt, schien sich in den letzten Stunden auf wundersame Art erholt, ja verjüngt zu haben. Ein Frühaufsteher, schon immer. Wie unsere Eltern. Ivo und ich waren die Langschläfer unserer Familie.
»Gewonnen, ich hab gewonnen!« – »Er war kein Heiliger, Rixa, er hat gemogelt.«
»Um 14:49 Uhr fährt ein Zug.« Alex strich Butter und Honig auf sein Brötchen. »Den können wir schaffen.«
»Ich muss noch mal in meine Wohnung, ich brauche frische Klamotten.«
Ich nahm mir ein Brötchen, zwang mich, es zu essen. Der Kaffee machte mich nicht wach, jagte nur meinen Puls in die Höhe. Wenn ich mich nicht anstrengte, verschwamm die Welt um mich herum in einem bizarren Nebel.
Draußen fiel Regen und gefror, sobald er die Straßen berührte. Passanten rutschten im Zeitlupentempo an uns vorbei. Handschuhhände, die an kalten Fassaden nach Halt suchten. Hupende Autos, ineinander verkeilt. Dann plötzlich die U-Bahn, im Vergleich dazu rasend. Irgendwann waren wir in meiner Wohnung und ich stopfte Unterwäsche und Kleidungsstücke in meinen Rucksack, die möglicherweise passend für die Beerdigung meiner Mutter waren.
»Du hast ja gar kein Klavier.«
Alex wartete auf dem Küchensofa, den Blick auf mein Barpianistin-Werbeplakat geheftet, links und rechts von ihm lagen meine winteruntauglichen hochhackigen Stiefel.
»Ich bin ja fast nie hier.«
Ich hob die Stiefel auf und stellte sie ordentlich nebeneinander, damit sie nicht länger aussahen wie türkisfarben lackierte abgebrochene Füße.
»Früher wolltest du immer einen Flügel. Ach was, wolltest. Du hast geschworen, keinen Tag würdest du ohne einen überleben, wenn du erst mal von zu Hause ausgezogen wärst.«
»Diese Wohnung ist zu kalt und zu klein dafür.« Ich schulterte meinen Rucksack. »Komm, wir müssen los. Mutters Anwalt wartet.«
Dr. Franz Gruber, Notar. Das Messingschild neben seiner Eingangstür schien dort schon seit Jahrzehnten zu hängen, womöglich seit der Gründerzeit, in der das Mietshaus, in dem sich die Kanzlei befand, erbaut wurde. Weißer Stuck und ein Treppenhaus aus Marmor, repräsentativ nannte man das wohl. Doch das Zimmer, in das Dr. Gruber uns führte, verströmte dank der Holzvertäfelungen und der klobigen Möbel eine altmodische Behaglichkeit. Ich konnte mir meine Mutter hier vorstellen, konnte mir vorstellen, dass sie diesem Dr. Gruber vertraut hatte. Einem hässlichen kleinen Mann mit Mundgeruch und freundlichen Augen.
»Ihre Mutter, ja also. Mein sehr ehrlich empfundenes Beileid.«
Er ergriff unsere Hände und deutete einen Diener an, nahm uns die Jacken ab, brachte Kaffee und Gebäck und Wasser.
»Ein sehr kurzes Testament, nur wenige Zeilen lang«, verkündete er, nachdem wir die Formalitäten überstanden hatten. »Eine überschaubare Erbschaft. Genau 7326,43 Euro und dieses Haus, von dem Sie, Frau Hinrichs, ja bereits Kenntnis haben.«
Er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick in unsere Gesichter, ob wir seinen Ausführungen auch tatsächlich folgten, bevor er die letzten Anordnungen unserer Mutter vorlas.
»Meine Ersparnisse sollen meine
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