Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
als ich sie danach fragte. Sie hätte die Steinputten als entzückend bezeichnet, sie suchte immer nach den Schönheiten des Lebens. Warum fiel mir das ein, und stimmte das wirklich? Ich hörte die Schritte der Retzlaffs hinter uns, ihr Schweigen. Sie wahrten die Fassung, so wie sie es auch bei den Beerdigungen ihrer Eltern getan hatten, ließen sich auch vom unzeitgemäßen Tod ihrer jüngsten Schwester nicht beugen. Aufrechte Rücken, gestraffte Schultern, kantige Kinne. Obwohl einigen von ihnen das Gehen schon Mühe bereitete, würden sie keinen Stock benutzen, ihre Schwäche nicht zeigen.
    Wir Retzlaffs sind nach außen hart und innen dennoch weich, Ricki. Man soll sein Herz nicht auf der Zunge tragen, es mag Sorgen und Kümmernisse und schwarze Momente geben, aber die gehen niemanden etwas an, schon gar niemanden außerhalb unserer Familie.
    Wann hatte meine Mutter das gesagt? In welchem Zusammenhang? Ich wusste es nicht mehr, konnte nicht einmal sicher sein, ob all diese Stimmen in meinem Kopf nicht allein meiner Phantasie entsprangen. In den ersten Jahren nach Ivos Tod hatte ich im Traum nächtelang mit ihm darüber gestritten, warum er so betrunken überhaupt Auto gefahren war. Mittlerweile geschah das nur noch selten und manchmal erschrak ich, weil es mir so vorkam, als ob meine Erinnerung den Klang seiner Stimme verfälschte. Wann würde mir das mit all den Satzfetzen meiner Mutter, die in mir herumgeisterten, genauso ergehen? In ein paar Wochen, Monaten, Jahren?
    Einen Moment lang verspürte ich den schier überwältigenden Drang, die Urne vom Wagen zu reißen, zu öffnen, zu schütteln, meine Fragen hineinzuschreien und diesen Pakt des Schweigens, den meine Mutter mit mir geschlossen hatte, als ich noch viel zu jung war, dessen Tragweite zu ermessen, wenigstens jetzt zu durchbrechen, in letzter Sekunde, bevor Erde sie bedeckte. Doch ich tat nichts dergleichen, natürlich nicht. Ich trat in gemessenen Schritten an die Kuhle, die neben Ivos Grabstein ausgehoben und für die Minuten unseres Abschieds mit grünem Kunstrasen ausgekleidet worden war, und warf den Maiglöckchenstrauß hinein, den mir ein Florist unter großen Mühen besorgt hatte. Vor zwölf Jahren hatte meine Mutter genau hier im Schlamm gekniet und nach Ivo gerufen. Ich versuchte, diese Erinnerung wieder zu verdrängen, hörte ihr Klagen dennoch, ein fernes Echo.
    »Dorothea hat euch geliebt, sie wollte immer nur das Beste für euch, sie hätte nie etwas getan, um euch zu schaden.« Richard nahm meinen Arm, als wir uns auf den Weg zum Restaurant machten, er sprach, als wollte er seine einst über die Grenze in seine persönliche Obhut gesandte kleine Schwester gegen einen Vorwurf verteidigen. Welchen Vorwurf, von wem? Ich sah ihn an, fand in seinem Gesicht keine Erklärung, genauso wenig wie in dem meines Vaters, der neben uns her lief, als sei er der Sekundant meines Patenonkels. Es war Richards ausdrücklicher Wunsch gewesen, dass mein Vater uns begleitete, die beiden Männer hatten sich immer schon gut verstanden, vielleicht weil meine Mutter ihnen einst vertraut hatte, oder weil sie das zumindest glaubten. Hatte sie ihnen denn vertraut? Womöglich war es gar keine Ausrede, wenn mein Vater behauptete, dass die Ehe für meine Mutter mit Ivos Tod ohne jeden Zweifel beendet gewesen war. Vielleicht wusste mein Patenonkel das und nahm ihm die Scheidung und seine erneute Ehe deshalb nicht übel? Aber wenn das stimmte – was sagte das über das Gefühlsleben meiner Mutter aus? Hatte sie ihren Ehemann überhaupt je geliebt? Früher hätte ich das nie in Zweifel gezogen, doch falls es so gewesen war, war diese Liebe zusammen mit ihrem jüngsten Sohn Ivo gestorben.
    Wir bogen in einen der Hauptwege des Friedhofs ein. Die Grabstätten links und rechts des Wegs waren hier protziger und älter, die Steinengel und Putten, die auf ihnen wachten, ließen mich erneut an meine Großmutter Elise denken, die nicht nur die Taubheit ihrer Finger ohne zu klagen ertragen hatte, sondern auch, dass sie meine Mutter und fünf weitere ihrer Kinder an das Deutschland jenseits der Grenze verlor.
    Eine besonders fettbäuchige Putte mit Laute schien wissend zu lächeln und erinnerte mich an das Schutzengelbildchen, das neuerdings an der Tür meines einstigen Kinderzimmers im Haus meines Vaters klebte. Das Zimmer gehörte nun Florentine, aber sie hatte mit einem geradezu rührenden kindlichen Eifer darauf bestanden, dass ich darin übernachtete. Sie hätte extra für mich

Weitere Kostenlose Bücher