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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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selbst Alex, und taten so, als wäre das Kiffen für uns ganz normal, und wir rissen Witze über all diese Macken unserer Eltern, die uns das Leben vergellten: ihre Versessenheit auf Ordnung und Disziplin, ihr Wahn, alles perfekt zu machen, und die damit unweigerlich verknüpften Schuldgefühle, weil diese hehren Ziele natürlich an den Tücken des Lebens scheitern mussten. Und dann griff irgendjemand zur Gitarre und wir sangen »Jetzt fahren wir über’n See, über’n See«, und »Laurentia, liebe Laurentia mein« und »Die Affen rasen durch den Wald«, und natürlich war es auch dieses Mal Ivo, der die Jagd nach der Kokosnuss pantomimisch darzustellen versuchte. Mehrmals kippte er beinahe ins Feuer, aber das konnte ihn nicht bremsen, im Gegenteil, er nahm das als Ansporn für noch wildere Verrenkungen.
    Er hat gemogelt, Rixa. Ivo war kein Heiliger.
    Ich sah Alex an, der neben mir in der ersten Bankreihe saß: ohne mich zu berühren, ohne zu weinen, die Skulptur eines Bruders. Die nächsten Angehörigen der Dorothea Hinrichs, geborene Retzlaff: zwei Kinder, die unfähig waren zu trauern, oder jedenfalls unfähig, ihre Trauer zu zeigen. Warum?, dachte ich, und dass unsere Mutter das nicht verdient hatte. Dorothea, das Gottesgeschenk, ohne die es uns gar nicht gäbe.
    Ich blickte wieder zur Urne. Blanker Stein. Schwarz. Asche zu Asche. Vielleicht war das einfach viel zu abstrakt, vielleicht war das der Grund für unsere Erstarrung. Als Mädchen hätte Dorothea sehr lange nicht einsehen wollen, dass Adam und Eva nicht ins Paradies zurückkehren durften, obwohl sie die Sache mit dem gestohlenen Apfel doch ehrlich und aufrichtig bereuten, hatte mein Onkel Markus in seiner Trauerrede gesagt. Und dass er hoffte, seine Schwester hätte nun im Tode ihr eigenes Paradies gefunden, vereint mit ihrem innig geliebten Sohn Ivo, in Gottes Schoß.
    Und da, Ricki, sieh doch, die beiden Nackten, die lächeln, das sind Adam und Eva.
    Die Totengräber setzten sich mit gravitätisch schaukelnden Schritten in Bewegung, Bänke knarrten, als sich die Trauergäste erhoben. Auch Alex und ich standen auf und folgten der Urne unserer Mutter durch das Spalier unserer Onkel und Tanten zum Ausgang der Kapelle. Richard, Theodor, Elisabeth, Matthäus, Markus, Mathilde, Stefan und Johannes: Die Schutzpatrone vergangener Tage, die Retzlaff-Geschwister, da waren sie. Grauhaariger als in meiner Erinnerung, faltiger, nicht mehr so überbordend vital. Doch sie waren wirklich und wahrhaftig alle gekommen, und ihre bloße Anwesenheit – ja nur das Wissen, dass sie allesamt nach wie vor existierten, sie und diese ganz besondere Energie ihrer Gemeinschaft – machte mich reflexartig wieder zum Kind, das sich um nichts sorgen musste und ohne Wenn und Aber dazu gehörte. Eine falsche Geborgenheit war das, wie mir überdeutlich bewusst war, denn ich hatte noch keinen von ihnen nach der Hakenkreuzfahne gefragt, auch Sellin nicht erwähnt, die acht unterschlagenen Jahre.
    Das dünne Glöckchen verklang. Jemand schluchzte auf, jemand anderes hustete. Mein Onkel Richard hatte feuchte Augen. Doch er wich meinem Blick aus, genau wie mein Vater, der allein in der letzten Bankreihe stand – ohne seine neue Frau und seine neuen Kinder, die er gebetsmühlenartig als unsere Geschwister bezeichnete, das war immerhin etwas. Neben mir tastete nun sogar Alex nach einem Taschentuch. Nur ich starrte auf diese Urne in dem sachte schaukelnden Blütenmeer und fühlte mich unfähig zu begreifen, dass darin tatsächlich die Asche unserer Mutter war.
    Es regnete draußen, rheinischer Bindfadenregen aus einem Himmel ohne Konturen, aller Farben beraubt. Von blattlosen Baumskeletten tropften wahre Sturzbäche auf die Gräber. Schmutziger Schnee klumpte an den Rändern der Wege. Ein Trauerszenario vom Feinsten, kein Maler oder Filmregisseur hätte es passender inszenieren können. Die Totengräber zockelten unbeirrt weiter, denselben Kiesweg entlang, auf dem wir vor zwölf Jahren Ivos Urne gefolgt waren, vorbei an bemoosten Jugendstilengeln und Putten. Alex spannte einen Schirm auf und hielt ihn über uns beide, eine höfliche und zugleich unverbindliche Geste. Er fror, das verrieten seine bläulichen Lippen, der deutsche Winter überforderte uns beide. Ich schob meine klammen Finger in die Jackentaschen. Unsere Großmutter hatte im Winter oft nicht einmal Handschuhe getragen. Das kalte Wasser der Mecklenburger Seen hätte ihre Finger gegen den Frost immun gemacht, sagte sie einmal,

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