Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
doch die wildesten Geschichten. Oder hatte ihre Familie sogar einmal darin gelebt, und meine Großeltern hatten sie vertrieben? Gab es das vor Hitlers Machtergreifung, jüdische Familien, die in evangelischen Pfarrhäusern wohnten? Vermutlich, ja, mit Sicherheit hatte es Juden gegeben, die zum Christentum konvertierten. Vielleicht war Ann Millners Vater ja evangelischer Pfarrer gewesen, aber in ihrem Rassenwahn ließen die Nationalsozialisten seinen gewählten Glauben nicht gelten. Doch falls eine dieser Spekulationen tatsächlich zutraf, wieso verkaufte diese Amerikanerin das Pfarrhaus dann vor zwei Jahren an meine Mutter, und wie waren die beiden sich überhaupt begegnet?
Ich sah meinen Patenonkel an, zwang mich, seinen Blick zu halten. Nicht bei der Beerdigung, Rixa, hatte Alex gebeten, aber ich hatte ihm nichts versprochen und war ihm keine Rechenschaft schuldig. Außerdem ließ auch ihn dieses Erbe, das unsere Mutter uns hinterlassen hatte, nicht kalt. Während der Zugfahrt nach Köln hatten wir zusammen einen Brief mit unseren Fragen an Ann Millner formuliert und ihn in Köln per Kurier an ihre im Grundbuch genannte New Yorker Adresse geschickt. Zuvor hatte ich im Internet und bei der Auslandsauskunft versucht, eine Telefonnummer ausfindig zu machen, doch es gab viele Ann Millners in Amerika – und keine Einzige unter der uns bekannten Anschrift.
»Das waren sehr dunkle Jahre in Sellin, Rixa. Als sie vorbei waren, mochte sich keiner von uns noch daran erinnern.«
»Aber unsere Mutter ist dort geboren!«
»Sie war in Sellin doch noch ein Kleinkind.«
»Und deshalb darf sich weder sie noch sonst jemand an diese Zeit erinnern?«
»Du verstehst das nicht, Rixa, eure Generation weiß nicht, wie …«
»Der Krieg, die Flüchtlinge, der Einmarsch der Russen, das war alles schrecklich, das verstehe ich durchaus! Aber dass ihr uns acht Jahre Leben eisern verschwiegen habt, die Zeit von 1942 bis 1950? Außerdem war der Krieg doch längst vorbei, als ihr von Sellin zurück nach Poserin gezogen seid!«
Angst, war das Angst in den Augen meines Onkels, oder einfach nur Ärger? Paul Horn fiel mir ein, wie er im Gewölbe des Taj Mahal gesessen hatte, um in der Stille der Steinmauern zu lesen, Stunde um Stunde, wie er mit ihr verschmelzen musste, um sie zu verstehen, die Stille in diesem Palast, der ihm auf diese Weise seine Geheimnisse preisgab. Manchmal, nachts, allein auf dem Oberdeck der Marina, war es mir plötzlich so vorgekommen, als würde ich nicht mehr nur die Wellen und den Schiffsmotor hören, sondern noch etwas anderes, das ich nicht benennen konnte, einen Klang jenseits des Klangs, vielleicht war das das Gleiche.
»Amalie ist in Sellin gestorben.« Nicht Richard sagte das, sondern Elisabeth, nach einer sehr langen Pause, es war kaum mehr als ein Flüstern.
Ich drehte mich zu ihr um, glaubte einen Moment lang nicht sie, sondern meine Großmutter vor mir zu sehen. Dieselbe Statur, dieselben Gesichtszüge, dieselben smaragdgrünen Augen.
»Amalie? Wer ist Amalie?«
»Sie war unsere Schwester«, sagte Richard neben mir. Und Elisabeth schüttelte den Kopf. Nicht verneinend, eher so, als könnte sie es einfach nicht begreifen.
Ein zehntes Retzlaff-Kind. Eine Schwester, von der meine Mutter nie auch nur ein Wort gesprochen hatte. Sie nicht, ihre Eltern und Geschwister nicht, niemand. Es war ungeheuerlich. Brutal. Nicht nachzuvollziehen. Doch mehr gaben die Retzlaffs an jenem Nachmittag nicht preis, sosehr ich und nach einer Weile auch Alex sie auch mit Fragen bedrängten.
Irgendetwas stimmte nicht mit Amalies Tod und wohl auch mit ihr selbst, so viel hatten wir am Ende dieses Nachmittags schließlich begriffen. Stimmte so sehr nicht, dass selbst Jahrzehnte später nicht davon gesprochen werden durfte, ja dass man nicht einmal daran denken sollte. Als läge ein Fluch über ihrem Namen, als wäre ihr früher Tod in Sellin eine Schande für unsere Familie. Nein, nicht nur ihr Tod, auch ihr Leben, die bloße Tatsache, dass sie je existiert hatte.
Was vergangen ist, ist vorbei, das lässt man besser ruhen. Dorothea würde sich wünschen, dass ihr Kinder nach vorn blickt. Wenn sie euch keine Erklärung hinterlassen hat, müsst ihr das akzeptieren.
Wir gaben auf, verabschiedeten uns und fuhren in einem Taxi zurück in das Haus, das wir einmal Zuhause genannt hatten. Regenschwaden peitschten gegen die Fenster, und inzwischen war es dunkel geworden. Vielleicht lag es daran, dass mir die Straßen fremd vorkamen,
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