Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
aufgeräumt und ihre schönste, nagelneue, rosa geblümte Bettwäsche für mich ausgesucht, verkündete sie stolz, und ich, die ich fest entschlossen gewesen war, im Gästezimmer zu übernachten, brachte es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen. Ich sollte sie lieben und konnte es nicht, verstand selbst nicht, warum. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie geboren worden war, und mein Vater hatte nicht mich verlassen, sondern meine Mutter.
Leichenschmaus, ein grässliches Wort. Das Hinterzimmer des Restaurants, in dem unsere Trauergemeinschaft schließlich zum Halten kam, um gemeinsam zu speisen und der Verstorbenen zu gedenken, hatte terracottafarben getünchte Wände, die nicht zu den Bleiglasfenstern passten und keinerlei mediterranen Charme verbreiteten. Aber es war trocken und warm und bezahlbar und bot an langen Tischen ausreichend Platz für alle. Meiner Mutter hätte diese rein praktisch orientierte Wahl meines Vaters sicher gefallen. Ich aß ein paar Löffel Gemüsesuppe und ein halbes belegtes Brot – Schwarzbrot mit Tilsiter, der Lieblingskäse meiner Mutter. Essen, um sich zu vergewissern, dass man noch am Leben ist, das war wohl der Zweck. Zusammen sein, weiteratmen, trinken, reden, sogar lachen. Sich einlullen lassen von der Gemeinschaft. Durch den erlittenen Verlust verbunden und noch mehr durch die Illusion, dass es Trost gibt, dass es gar nicht so wehtut, zumindest bis jeder wieder mit sich und seinen Erinnerungen allein ist.
Die vertrauten Gesichter und Stimmen um mich herum drohten immer wieder zu verschwimmen, eine weitere beinahe schlaflose Nacht forderte ihren Tribut. Irgendein starrsinniger Teil von mir schweifte außerdem noch immer an diesen Seychellenstrand und begriff nicht, dass mein Ausflug dorthin Vergangenheit war, genau wie mein Engagement auf der Marina. Ich holte mir eine Tasse Kaffee und der Form halber auch ein Stück Streuselkuchen und setzte mich wieder neben Alex, der mit leiser Stimme die Fragen unserer Onkel Markus und Johannes nach dem Zustand der australischen Korallenriffe in Anbetracht der globalen Erderwärmung beantwortete. Ich wandte mich zur anderen Seite, hörte meine Tante Elisabeth vom ersten Schultag meiner Mutter berichten, und Richard von ihrer Ankunft in Münster.
»… nur mit diesem winzigen Wanderrucksack, nicht einmal Wäsche zum Wechseln hatte sie dabei, dafür aber den silbernen Kerzenleuchter mit den zwei Engeln, den unsere Mutter noch kurz vor dem Einmarsch der Russen im Garten vergraben hatte. Sie hing an dem guten Stück, eine Gutsherrin, mit der sie wohl eine Zeit lang befreundet gewesen war, hatte ihr den einmal zum Geburtstag geschenkt, und zum Glück hat die Rote Armee den Leuchter ja auch nicht gefunden, im Gegensatz zu dem zwanzigteiligen Fischbesteck mit den Wasserlilien und dem Schmuck und den Uhren – aber das wisst ihr ja alles genauso gut wie ich, das muss ich nicht noch einmal erwähnen. Den Kerzenleuchter jedenfalls hatte unsere Mutter Dorothea mit auf den Weg gegeben, damit sie ihn notfalls verwenden könnte, um die Grenzer zu bestechen, was ja dann Gott sei Dank nicht nötig war und –«
»Sellin!« Ich hatte nicht laut gesprochen, doch das Wort kam mir vor wie ein Schrei. »Bei Kriegsende, als die Russen einmarschiert sind, habt ihr in Sellin gelebt, nicht in Poserin, wie ihr immer gesagt habt.«
Keine Antwort. Schweigen. Kompakt, beinahe greifbar. Und obwohl sich keiner von ihnen bewegte, kam es mir vor, als rückten die Retzlaffgeschwister enger zusammen.
Ich zog die beiden Fotos mit SA und Hakenkreuzfahne aus meiner Jackentasche und legte sie neben Richards Kaffeetasse.
»Opa war Nazi, liegt es daran? War das mit den auf eurem Dachboden versteckten jüdischen Flüchtlingen nur ein Mythos?«
Er schüttelte den Kopf, inspizierte die beiden Fotografien, reichte sie weiter. Der älteste Sohn, der Ersatzpatriarch, alle blickten auf ihn, niemand anderes sprach.
»Diese beiden Aufnahmen sind in Klütz entstanden, Rixa, in den Dreißigerjahren.« Richard räusperte sich. »Und diese Fahne und die SA-Leute –. Es war nicht so, wie es scheint.«
»Wie war es dann?«
Die Luft schien zum Schneiden, mein Hirn schlug Kapriolen. Vielleicht hatte Ann Millner, diese Amerikanerin, die meiner Mutter das Pfarrhaus verkauft hatte, ja einst Anne Müller geheißen. Vielleicht war sie Jüdin, und meine Großeltern hatten ihr von Sellin aus zur Flucht in die USA verholfen, und deshalb kaufte sie nach der Wende das Pfarrhaus, es gab
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