Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
die Augen. Theodor ist zu nachsichtig mit ihr, denkt Elise. Und nun darf sie sogar schon Klavierstunden nehmen. Das ist viel zu früh, wird zu weiteren Kämpfen führen, spätestens in dem Moment, wenn es ernsthaft ums Üben geht. Sie hat Theodor das gesagt, hat ihn an all die Male erinnert, in denen er zum Rohrstock greifen musste, und wie ihn das bekümmerte. Doch über sein Goldkehlchen lässt Theodor nicht mit sich reden.
13. Rixa
Blumen, überall Blumen. Zuchtrosen, Lilien und Chrysanthemen, dazwischen die schwarzen und goldenen Aufschriften der Schleifen:
Geliebte Schwester. In stiller Trauer. Unvergessen
. Der Duft der Lilien war zu süß und schien den letzten Rest Sauerstoff, den die Kerzen noch nicht verbrannt hatten, zu absorbieren, der Geruch nasser Mäntel und Schirme machte es nicht besser. Warum legte man Blumen auf Gräber? Um durch ihre Farben die Trauer zu kaschieren, oder weil sie den Tod so ästhetisch gefällig symbolisierten: abgeschnitten von ihren Lebensadern, zum Welken verurteilt? In südlichen Ländern schmücken die Hinterbliebenen die Marmorgrabmale ihrer Liebsten mit Blüten aus Plastik. In Russland umfrieden sie die Grabstätten mit Metallzäunen, die wie Importe aus einem Spielzeugland wirken, hellblau und rosa und gelb gestrichen. In Murmansk hatte ich das gesehen, während einer Exkursion auf die Kolahalbinsel. Farben. Hoffnung. Vielleicht ging es darum, gerade auf einem Friedhof: aufbegehren gegen das Unvermeidliche. Ein einziges Täuschungsmanöver, und sei es auch nur mit bunten Farben.
Der letzte Ton der Orgel verklang. Ein dünnes Glöckchen kündigte die Totengräber an, die sich verneigten und sodann mit geübten Griffen und stoischen Mienen Urne und Kränze auf einen Rollwagen luden.
Der einzige Tag ihres Lebens, an dem meine Großmutter all ihre neun Kinder gleichzeitig zu sehen bekommen hatte, war der 60. Geburtstag meines Patenonkels Richard gewesen. 1985 in Münster, da war mein Großvater bereits seit drei Jahren tot. Nur wenige Wochen danach war auch meine Großmutter gestorben. Aber dieses eine Mal wurde ihr geschenkt: all ihre neun Kinder lebendig und vereint und sie in ihrer Mitte. Nie zuvor war das möglich gewesen, schließlich verlief die deutsch-deutsche Grenze mitten durch unsere Familie. Die Ostler durften nicht ausreisen, die Westler nie alle gleichzeitig in die DDR einreisen. Und 1945, als es noch keine Grenze gab und die jüngste Tochter, meine Mutter Dorothea, zur Welt kam, befanden sich die zwei ältesten Retzlaff-Söhne in Kriegsgefangenschaft und kehrten nach ihrer Freilassung nicht mehr nach Mecklenburg zurück. Und so vergingen Jahre, wurden zu Jahrzehnten. Erst jener 60. Geburtstag meines Onkels Richard war nach DDR-Maßstäben Anlass genug, seinen in der DDR beheimateten drei Geschwistern eine Reisegenehmigung in die BRD zu erteilen. Vorübergehend natürlich nur, für wenige Tage, und ohne die Begleitung ihrer Ehepartner und Kinder. Die mussten im Sozialismus zurückbleiben und so für die Wiederkehr der Reisenden aus den Klauen der Kapitalisten bürgen.
Das Wunder der Retzlaffs, das Familienwunder, das über die Grenze triumphiert hatte. Meine Großmutter musste überwältigt gewesen sein, doch soweit ich mich erinnern konnte, hat sie an jenem Wochenende nicht geweint. Es gab einen Dankgottesdienst und Sekt und vor jeder Mahlzeit sangen wir im Chor ihre Lieblingslieder: ›Lobet den Herrn‹ und ›Geh’ aus mein Herz‹ und den Kanon ›Froh zu sein bedarf es wenig‹. Worüber wurde dann gesprochen? Über die Familienneuigkeiten, über die Angehörigen im Osten, die nicht dabei sein konnten. Darüber, dass es in jenem Sommer in den DDR-Konsumläden auf einmal Skiunterwäsche zu kaufen gab, aber kein Toilettenpapier, und natürlich fehlten auch die üblichen Retzlaffschen Grenzkontrollanekdoten nicht, nur dass die neuesten davon diesmal nicht wir Westler zum Besten gaben, sondern die Ostler. Aber meine Großmutter selbst hatte nicht viel erzählt, sondern war früh zu Bett gegangen, sodass ihre Nachkommen ohne sie weiterfeiern mussten. Am Ende des Abends versammelte sich dann wie sonst auch immer das sogenannte »junge Gemüse« im Garten an einem Lagerfeuer, um die Bier- und Weinreste zu vernichten, wir Enkel, die wir in den Achtzigerjahren schon Teenager und junge Erwachsene waren. Irgendwann weit nach Mitternacht hatte einer der Münchner Cousins zur Feier dieses besonderen Tages sogar einen Joint kreisen lassen. Wir zogen alle daran,
Weitere Kostenlose Bücher