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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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oder an meiner Müdigkeit oder an einer Mischung aus beidem. Amalie. Sellin. Sechs Silben, zwei Namen. Die neue Frau meines Vaters servierte uns überbackene Thunfischbaguettes und Weißwein und lächelte zu viel. Florentine und Felix bestanden darauf, dass wir noch zu ihnen ins Gästezimmer kamen und ihnen Gute Nacht sagten.
    »Vielleicht gibt es in Mutters Wohnung ja doch irgendeine Erklärung«, sagte Alex, nachdem unser Vater und Kornelia sich zurückgezogen hatten und wir allein im Wohnzimmer saßen.
    »Oder in diesem Tresorfach, zu dem ihr Safeschlüssel gehört, oder in Sellin.«
    »Möglich, ja.« Alex sprach zum Kaminfeuer hin, sah mich nicht an.
    Sie hatten investiert, Kornelia und mein Vater, hatten das Beste aus unserem einstigen Zuhause herausgeholt. Die Wände zu Esszimmer und Küche waren verschwunden, zur Terrasse hin beschränkte kein Heizkörper mehr den Blick in den Garten, sondern es gab Glastüren bis zum Boden und natürlich Parkett. Doch die deutlichste Veränderung waren die Möbel. Die Sofas, aus weichem Leder und riesig, zum Flegeln und Füßehochlegen geschaffen, waren statt zum Fernseher zum Kamin ausgerichtet. Es gab auch eine Holzkiste mit Kinderspielzeug, einen Couchtisch mit Kratzern und Wasserflecken und ein neues Klavier. Ein weiß lackiertes Prunkstück von Kawai, mit einem halb ausgetrunkenen Saftglas und einem unordentlichen Stapel Noten darauf. Dennoch war es perfekt gestimmt, dessen war ich mir sicher. Im Haushalt meiner Mutter hatten die Möbel Regie geführt, sie mussten geschont werden, erhalten, unter allen Umständen bewahrt – nun war es umgekehrt: Die Möbel dienten den Menschen. Auch der Kamin, den mein Vater früher nur zu außerordentlichen Anlässen anheizen durfte, weil er zu viel Dreck machte, wurde nun offenbar regelmäßig befeuert.
    Ich zog die Füße hoch und überlegte, was Ivo wohl zu dieser Verwandlung unseres Elternhauses gesagt hätte – und zu unserer totgeschwiegenen Tante. Vielleicht waren Alex und ich zu freundlich geblieben, zu höflich. Ivo hätte man vermutlich mit Gewalt aus dem Restaurant schleifen und knebeln müssen, bevor er sich mit den mageren Informationsbröckchen abgefunden hätte, mit denen die Retzlaffgeschwister uns abgespeist hatten. Vielleicht hatte unsere Mutter ihn ja deshalb so sehr geliebt und gar nicht wegen seiner Kunst. Weil er das genaue Gegenteil von ihr war. Von ihr, von uns allen: respektlos und laut, nicht zu bezähmen.
    Ich betrachtete die Kiste mit dem Sammelsurium aus Spielzeugautos, Holzeisenbahnschienen, Stofftieren und Wachsmalkreiden, den fleckigen Couchtisch. Unsere Mutter hatte Wert darauf gelegt, dass wir so oft wie möglich in unseren Zimmern spielten. Als Ivo noch klein war, kauerte sie stundenlang an dem winzigen Kindertisch in seinem Zimmer und malte mit ihm. Sie war immer glücklich dabei, auf eine Art entspannt wie sonst nur ganz selten. Als wären seine Kinderkritzeleien eine Art lang ersehnte Erlösung.
    Und Ivo selbst, was war mit ihm, war er auch glücklich dabei, oder malte er seine ersten Bilder vor allem für sie? Ich hatte ihn das nie gefragt, hatte auch meine Mutter nie gefragt, was genau ihr seine Malerei eigentlich bedeutete. Neid war das vielleicht, die Sehnsucht, sie möge sich genauso sehr für meine Musik interessieren. Nicht einmal die Tatsache, dass sie sich nach Ivos Tod kein einziges seiner Werke in ihre Wohnung gehängt hatte, erwähnte ich, wenn ich sie besuchte. Und doch war sie die einzige Person gewesen, mit der ich in den letzten zwölf Jahren überhaupt über Ivo gesprochen hatte. Nein, das war falsch. Sie allein sprach von ihm – ich hörte nur zu, und selbst wenn ich ihre Sicht auf ihn nur selten teilte, widersprach ich ihr nicht, sondern ließ sie in dem Glauben, ihre Erinnerungen entsprächen der Wahrheit.
    Alles in Ordnung hier, Rixa. Mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen.
    Was, wenn ich ehrlich zu ihr gewesen wäre, hätte das irgendetwas verändert, würde sie dann noch leben? Als Kind fürchtete ich ihr Schweigen mehr als jede andere Strafe. Ich hielt das kaum aus, lief dagegen Sturm,
bitte, Mama, bitte, sei mir doch wieder gut!
Später lernte ich, mit ihrer Stille zu leben. Noch später, mir ihr gegenüber möglichst keine Blöße zu geben, am besten nichts mehr von ihr zu erwarten, und wenn sie mich doch verletzte, ihr das nicht zu zeigen. Und so war ich letztlich genauso geworden wie sie. Verrat war das – an mir und vor allem an Ivo. Denn er war tot, konnte sich

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