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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Deutschland etwas zum Guten wendet – nach diesem grausam verlorenen Krieg, nach all diesen schmachvollen Jahren seitdem, in denen es uns doch manches Mal so vorkam, als habe Gott unser Volk verlassen?« Wieder eine Pause. Doch diesmal betrachtet Theodor nicht den gekreuzigten Jesus, sondern entrollt mit sicherem Griff das Banner, das er aus Berlin erhalten hat. Rot, schwarz und weiß leuchtet es, wie die Hakenkreuzfahnen der Nationalsozialisten. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass in diesem Banner das Hakenkreuz kleiner als das Christenkreuz ist, nur dessen Schmuck, und ein D und ein C flankieren den Fuß des Christuskreuzes und geben ihm Halt – die Initiale der Deutschen Christen. Alle Macht liegt bei Gott, ist die unbezweifelbare Botschaft.
    Trotzdem entsteht Unruhe in den dicht besetzten Bänken. Füße scharren. Es wird getuschelt und gehüstelt, zumal Theodor nun auf die heilige Pflicht zu sprechen kommt, den Glauben eindeutig und rein zu halten. »Wir sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für deren Erhaltung zu sorgen Gottes Gesetz ist«, zitiert er aus den Statuten der Deutschen Christen. Und auch wenn er sich bei der Begründung auf die notwendige Abgrenzung der Christen von den Juden konzentriert, verstehen in Klütz doch alle, dass es ihm genauso oder gar noch mehr um Protestanten und Katholiken geht. Elise unterdrückt einen Seufzer. Es ist wirklich bewundernswert, wie viel Rückgrat ihr Mann im letzten Jahr bewiesen hat. Doch mit seiner vehementen Ablehnung der katholischen Kirche in Klütz hat er sich nicht nur Freunde gemacht und ihnen das Einleben nicht gerade erleichtert, viel zu stürmisch rannte er gegen den Kirchenbau an und konnte ihn doch nicht verhindern. Letztlich musste er sich sogar beim Bürgermeister entschuldigen.
    Elise reckt sich und späht über die Balustrade. Die Gemeinde beruhigt sich wieder und hört zu, denn Theodor ist ein fesselnder Redner, und diese Predigt ist ihm außerordentlich gut gelungen. Wie schade, dass seine Eltern ihn so nicht sehen, er sagt das nicht laut, aber sie weiß dennoch, wie sehr ihm das zu schaffen macht. Den Beitritt zur NSDAP hätten sie ihm vielleicht noch nachgesehen, aber gleich auch noch die SA? Auch Hermann ist sie seitdem nicht mehr besuchen gekommen, er sei regelrecht entsetzt über Theodors SA-Beitritt, hat die Mutter ihr berichtet. Aber sie selbst hat die weite Reise aus Leipzig auf sich genommen. Sitzt da unten mit der kleinen Elisabeth auf dem Schoß und neben ihr die Jungen, aufgereiht wie die Orgelpfeifen, und alle sind mustergültig brav, weil sie ihre sächsische Oma innig lieben.
    Ein leises Summen ertönt in Elises Rücken. Ihre Älteste ist das, natürlich, wer sonst. Elise dreht sich herum und droht ihr mit dem Dirigierstab. Das Mädchen zuckt zusammen und bedenkt sie mit einem zerknirschten Lächeln. Nicht einmal einen Brief hat Hermann der Mutter mitgegeben, nicht einmal das. Das ist nur der Übergang, sagt Theodor, gräm dich deshalb nicht. Wenn Hitlers Partei noch weiter erstarkt, werden auch seine Kritiker verstummen und zugeben, dass sie viel zu schwarzsahen. Dann werden sie froh sein, dass es Menschen gab, die nicht zauderten, sondern voranschritten. Die noch einmal bereit sind, an Visionen zu glauben.
    Elise tappt zurück ans Notenpult. Gleich wird Theodor noch einmal aus dem Römerbrief zitieren. Dann muss der Chor noch ein zweites Mal singen, danach kommt nur noch der Schlusssegen, und dann muss sie sich mit dem Mittagessen sputen, schließlich haben sie Gäste. Zum Glück ist die lange Tafel im Konfirmandenzimmer bereits mit dem guten Meißen gedeckt und mit den ersten Rosen aus dem Garten. Auch die Speisen sind vorbereitet und die Mutter wird ihr bei den letzten Handgriffen helfen. Vater wäre so stolz auf dich, Lieschen, hat sie ihr vorhin zugeflüstert. Das prächtige Haus, die Gemeindearbeit, dieser schöne Ort, Klütz, und so viele wohlerzogene Enkel! Wenn er nur geahnt hätte, wie du dein Leben meisterst, nie hätte er sich um dich so sehr gegrämt.
    Der Römerbrief, jetzt. Mit einer letzten, kurzen Pause leitet Theodor sein Schlusszitat ein, bringt es dadurch umso besser zur Geltung:
    »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.«
    Elise hebt den Taktstock. Gehorsam – wahrhaftig, ja. Und was tut Amalie? Die schließt schon wieder

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