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Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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gegen Schweigen und Lügen nicht mehr wehren. Und es gab auch niemand anderen, mit dem ich über ihn sprach, ich ließ ihn nur noch in meinem Kopf existieren. Ich hatte ihn zu einem Geisterbruder gemacht, genau wie die Retzlaffs ihre Schwester Amalie.
    Ich stand auf und holte den Wein aus dem Kühlschrank, schenkte uns nach und stellte die Flasche auf den Couchtisch. Ich betrachtete Alex’ Profil, dachte an diesen Ausdruck in seinen Augen, als wir vor Florentines und Felix’ Nachtlager im Gästezimmer gekniet hatten, sein Lächeln, während er ihre Fragen beantwortete. Sie liebten seine Erzählungen über die Welt unter Wasser, sie liebten die Schneckengehäuse, die er ihnen mitgebracht hatte, in denen der Ozean rauschte, die Hüte aus Krokodilsleder, die Plüschkängurus und die von Aborigines gefertigten Armbänder und Ketten. Der große Bruder aus dem Abenteuerland. Er war das gern, er genoss ihre Nähe.
    Ich stellte mir vor, wie er in Poserin frühmorgens in seinem grün-rot gestreiften Schlafanzug barfuß durchs Gras zum Hühnerstall gerannt war, sich etwas wünschte – was? – und überlegte, auf welches Nest er wohl setzen würde. Bestimmt hatte er auch mithilfe allerlei Formeln und Tabellen versucht, die Wahrscheinlichkeit seiner Treffer zu berechnen. Ich stellte mir vor, wie er irgendwann den Verdacht schöpfte, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, weil Ivo so oft gewann. Wie er noch früher aufstand und sich hinter dem Hühnerstall auf die Lauer legte. Wie er Ivo kommen sah und mit seinem Verdacht konfrontierte, und damit dem Hühnerorakel zumindest für sich selbst und vermutlich auch für Ivo den Zauber nahm. Ich dachte an all seine sorgfältig beschrifteten Kistchen und Gläser und Schachteln, auf die er so stolz gewesen war. An sein Schnauben und Prusten, wenn er seine Ernsthaftigkeit mal vergaß und für Ivo und mich ein Seeungeheuer spielte, das uns jagte. Wie er die Zähne fletschte und nach uns grabschte, bis wir alle drei vor Lachen nicht mehr konnten. Ich dachte daran, wie spinnenbeinig er unter Wasser ausgesehen hatte, ein milchhäutiger Daddy Longlegs. Und wie er mich nach Ivos Tod eine ganze Nacht lang festhielt.
    Er trank von seinem Wein, ohne den Blick vom Feuer zu wenden, als säße er allein hier, als gäbe es für uns beide nichts mehr zu sagen oder zu besprechen. Ich lehnte mich vor und berührte seinen Arm, spürte, wie er sich versteifte, ließ ihn wieder los.
    »Warum sind wir so, Alex? So kalt, distanziert?«
    »Sind wir das?«
    »Etwa nicht?«
    Er antwortete nicht, sah mich noch immer nicht an.
    »Wir waren doch mal anders, Alex. Und damals, als Ivo gestorben ist, da hast du –« Ich suchte nach Worten, fand keine, die passten.
    Ein Holzscheit zerbarst, ließ uns beide zusammenzucken. Funken stieben auf, wie die Glühwürmchen, die immer in genau dem Moment aufgehört hatten zu leuchten, wenn es uns endlich gelang, eins zu fangen. In unserem Garten hatte Kornelia weniger verändert als im Haus, ganz hinten stand noch immer der Walnussbaum mit der Schaukel. Als Kinder hatten wir dort Abspringen geübt, aus dem Flug, so hoch wir uns trauten. Ich liebte es, wenn die Baumkrone über mir verwischte, Tausende Blätter, flirrend im Himmel. Einmal, ein einziges Mal, war ich weiter und höher gesprungen als Alex und Ivo. Beim Landen brach ich mir den Arm, das tat höllisch weh, doch ich weinte nicht und trug meinen Gips in den folgenden Wochen mit Würde, bewies er doch, dass es meinen triumphalen Flug durch die Sommerluft wirklich gegeben hatte: diese winzige, schwerelose Ewigkeit, in der alles möglich schien, nur nicht das Fallen.
    »Warum er?« Alex stellte sein Glas auf den Couchtisch, so fest, dass es überschwappte. »Warum er, warum er? Stundenlang hast du das geschrien.«
    »Das war nicht ich, Alex, das war Mama, an Ivos Grab.«
    »Erst du, und dann eine Woche später bei der Beerdigung sie.« Er hob sein Glas wieder hoch, fuhr mit der Hand durch die Weinpfütze, ungeduldig und wütend, die Tropfen sprühten auf den Boden. »Da hab ich’s dann kapiert.«
    Der falsche Bruder war gestorben, der falsche Sohn. Das war die Botschaft, die bei Alex angekommen war.
Warum er? Warum Ivo?
Hatte ich das wirklich geschrien? Ich wusste es nicht mehr, würde mich wahrscheinlich niemals mit Sicherheit daran erinnern können, diese Nacht war ein Abgrund, ein Meer aus Schmerzen. Aber es war das, was Alex sich gemerkt hatte, also stimmte es wohl.
    Die Hände meiner Mutter, die sich in den

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