Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
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Er reichte ihr die Hand. » Pass bitte auf dich auf. Auf dich und deinen Bruder. «
Sanft, aber bestimmt machte sie sich von ihm los und holte tief Atem. » Wenn du mich besuchen möchtest, weißt du ja, wo du mich findest. «
Sechs Tage später wurde Martin auf dem Johannisfriedhof beigesetzt. Therese und ihre Eltern hatten Anna und Sebastian zur Trauerfeier in der St.-Johannis-Kirche eingeladen, aber die Geschwister hatten höflich abgesagt. Sebastian scheute vor der Begegnung mit Onkel Gerald zurück, immerhin hatte er seit der Geschichte mit Meister Stöckl jedes Zusammentreffen mit ihm vermieden. Anna verstand den Bruder nur zu gut.
Also hielten sich die Geschwister mit Lenchen hinter einer Reihe Eiben verborgen, als die Türen der Kapelle sich öffneten und die ersten Trauernden hinaus in die winterliche Kälte traten. Es schien, als wäre ein Großteil der Nürnberger Händler und Ratsmitglieder anwesend, um dem Schwiegersohn des angesehenen Tuchhändlers Erhardt Gruber die letzte Ehre zu erweisen. Den hellen Eichensarg, den einige Immergrünzweige schmückten, trugen die Sargträger an den Sandsteinplatten vorbei, unter denen sich die Gräber zahlreicher bekannter Nürnberger befanden, etwa das des Bildhauers und Baumeisters Adam Kraft und zahlreicher Patrizier. Ihre Wappen schmückten etliche der Grabplatten.
Langsam folgten Anna und Sebastian, der Magdalena auf dem Arm trug, dem Zug über das ausgedehnte Gräberfeld. An einer frisch ausgehobenen Grabstelle blieben die Männer stehen und ließen den Sarg in die Erde hinab.
Andreas Osiander öffnete seine biblia und las den 23. Psalm.
» Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zu frischem Wasser … «
Annas Augen hefteten sich auf Thereses Gestalt, die ihr den Rücken zugewendet hatte und wie festgewachsen vor der ausgehobenen Grube stand, neben sich ihre Eltern sowie Gerald Pfanner. Der Onkel stützte sich schwer auf einen Stock, er hielt den Kopf gesenkt. Sein Anblick schmerzte sie, mehr noch aber der Thereses, deren Schultern unter einem Weinkrampf bebten. Das Bild der jungen Frau, die hinter Martin aus dem Portal getreten war, drängte sich Anna förmlich auf. Wieder sah sie, wie er Therese seinen Arm bot, wie seine Lippen sich bewegten, als er ihr, der Schönen in dem blauen Festtagskleid, etwas zuraunte. Sie hatte gelächelt. Therese und er waren so glücklich, hatte Onkel Gerald gesagt.
Tränen traten ihr in die Augen und rannen ihr die Wangen hinab, bis Anna sie fortwischte. Mit einem Seufzen lehnte sie sich gegen Sebastians Schulter, strich über Lenchens rote Wangen und beobachtete das Geschehen. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Gebete und Gesang wechselten einander ab, bis der Pfarrer endlich über Martin zu sprechen begann. Von seinem freundlichen, stets zuvorkommenden Wesen und von seinem Glauben an den Herrn Jesus Christus, in dessen Reich er nun eingegangen war. Nicht wenige der Frauen zückten ihre Tüchlein und trockneten ihre Tränen. Therese schwankte, Erhardt Gruber und seine Gattin mussten sie stützen. Dann sprach der Pfarrer einen Segen, und es war vorbei.
Gerald Pfanner musste Annas Blicke im Rücken gespürt haben, denn kaum hatte er die ersten Beileidsbekundungen hinter sich gebracht, wendete er den Kopf, suchend, nachdenklich. Als er sie entdeckte, war es ihr, als würde sich für einen kurzen Moment seine Miene aufhellen. Sie erwiderte seinen Gruß und fasste Sebastian am Arm, um sich auf dem Absatz umzudrehen und den Friedhof hinter sich zu lassen.
KAPITEL 35
E inige Tage nach Martins Beisetzung war Sebastian schon früh aus dem Haus gegangen, um bei verschiedenen Handwerkern wegen einer Arbeitsstelle anzufragen. Danach wollte er Barbara einen Besuch abstatten. Die zarte Freundschaft zwischen den beiden rührte Anna. Seither war Sebastian regelmäßig im Haus der Freislers zu Gast gewesen.
Die Zeit verstrich, und die Sonne stieg allmählich höher. Genau genommen war es ihr ganz recht, dass der Bruder nicht daheim war. Seit Korbinians Tod waren mehrere Wochen vergangen, und es wurde Zeit, seine persönlichen Sachen fortzuräumen. Unzählige Male hatte sie es sich schon vorgenommen, nur um immer wieder einen neuen Grund zu erfinden, diese traurige Arbeit auf einen anderen Tag verschieben zu können. Wobei es durchaus Momente gab, in denen Korbinians vertraute Kleinigkeiten, die überall im Haus zu finden waren, ihr Trost spendeten. Das Durcheinander in der Werkstatt, sein Kittel, der dort an
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