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Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)

Titel: Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Kellen
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brauchten das Geld. Als guter, schneller Nietenläufer verdiente er mehr als seine Mutter in den Wäschereien am Fluss, wo man vor lauter Hitze und Dampf kaum Luft bekam. Hier oben gab es Luft im Überfluss, frisch und unverbraucht, herangebracht von Winden, die oft das Salz des Meeres mit sich führten.
    Nathaniel legte die Hälfte des Sandwichs wieder zurück in seine Brotdose. Er wollte noch ein wenig für den Rückweg haben, wenn er wie ein echter Arbeiter mit den anderen Ironworkern über die Brücke zurück nach Brooklyn ging. Meist tat er das zusammen mit Abhaya, einem der wenigen Skywalker, die ihn nicht wie ein Kind behandelten, sobald die Sirene den Tag beendete. Der Name bedeutete soviel wie »ohne Furcht», hatte er ihm erzählt. Nathaniel fand den Namen gut gewählt, wenn man bedachte, dass der massige Mann wie ein Tänzer in der Höhe spazieren ging. Er hatte sich sogar einmal todesmutig gegen einen plötzlich vom Wind ausschwingenden Träger gestemmt, der sonst einen der Nieter zu Blut und Knochen verwandelt hätte. Blut und Knochen , das war auch der Schlachtruf, den ihre Schicht gemeinsam ausstieß, bevor sie sich von den Fahrstühlen in den Himmel tragen ließ.
    Auch wenn viele Männer nicht von dem alten Feindbild lassen konnten (einige darunter recht deutlich), so respektierten die meisten von ihnen doch, dass einer von den Stämmen solche außergewöhnlichen Fähigkeiten besaß. Abends, wenn es zu dämmern begann, wurden die Arbeiten eingestellt, weil vielen Bauherren die Nachtsonnen - riesige pulverbetriebene Scheinwerfer - schlicht und ergreifend zu teuer waren. Da stellte man lieber ein paar Jungs aus den Slums ein, die für einen Bruchteil des Geldes von Sonnenaufgang bis Schichtende schufteten und das noch mit einem Lächeln im schwitzigen, rußgefärbten Gesicht. Als gegen zwanzig Uhr die Dämmerung die Dinge unscharf aussehen ließ, sodass man einen Eisenträger leicht mit einem Stück Schatten verwechseln konnte, ertönte die Sirene.
    Gemeinsam gingen sie alle über die Brücke zurück zu ihren Familien.  
    Nathaniel, der neben Abhaya wie ein Stock neben einem Baum wirkte, futterte gerade seine letzten Bissen mit etwas Ölgeschmack. Der Territorie schwieg, so wie er es meistens tat. Doch Nathaniel war aufgewühlt, weil es ein so schöner, ja sogar wunderschöner Tag gewesen war. Unter ihnen floss der East River wie eine monströse Wassergottheit mit immer dunkler werdenden Wellen. Manchmal drang das Horn eines der vielen Schiffe zu ihnen herauf und drängte sich zwischen das Murmeln und Lachen der Männer.
    »Du wirkst bedrückt, Abhaya. Was ist los? Wir haben heute fast ein ganzes Stockwerk gemacht, das ist ein Grund zum Lächeln, nicht um Trübsinn zu verbreiten.« Der Riese brummte nur. »Ich verstehe dich manchmal nicht, ganz ehrlich.« Plötzlich blieb Abhaya stehen, teilte die nachfolgende Menge mit seinem breiten Rücken wie eine Straßensperre. Dann trat er an das Geländer, umschloss es mit seinen mächtigen Händen und starrte in die Fluten unter ihm. Nathaniel, der dies für einen denkwürdigen Gefühlsausbruch hielt, zwängte sich durch und blieb neben ihm stehen.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er, obwohl er sich ungemein lächerlich dabei vorkam, wenn ein Junge wie er einem Mann wie Abhaya solch eine Frage stellte.
    »Meinst du, ich spüre es nicht, Birdy, jeden Tag aufs Neue? Die Angst und den Hass zwischen meinen Schultern, wenn sie hinter mir gehen, wenn sie neben mir sitzen müssen, weil kein anderer Platz da ist, dort oben.« Eigentlich durfte niemand Birdy zu ihm sagen, außer er war fast zwei Meter groß - und hatte solche Muskeln. Abhaya drehte ihm das Gesicht zu, das finster in Schatten gehüllt war, von den vielen, dürftigen Lämpchen, die man hier unten im Kriechgang für das Fußvolk brennen ließ, damit es den Weg dorthin zurückfand, wohin es gehörte. Nathaniel spuckte hinunter in den Fluss, aus Verlegenheit, wie ihm bewusst wurde. Er war nie als Mann angesprochen worden, nie wollte jemand seine Meinung zu etwas wissen, allein weil sie unwichtig und er unreif war. Was sollte er darauf nun sagen, ohne dass er wie ein Idiot dastehen würde? Er wusste es nicht, vielleicht weil es genauso war? Er spuckte noch ein Mal und hoffte, er würde den Schornstein einer Fähre treffen, das ließ ihn lächeln. Er kratzte sich etwas Ruß aus den Haaren.
    »Ich bin hier, weil ich auf einen grünen Zweig kommen will, damit Mutter nicht mehr Hände hat, die aussehen, als

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