Das Lied von Eis und Feuer 1 - Die Herren von Winterfell
die warmen Tränen von Samwell Tarlys Gesicht zu lecken. Der dicke Junge schrie auf, erschrocken … und irgendwie, von einem Augenblick zum anderen, wandelte sich sein Schluchzen zu Gelächter.
Jon Schnee lachte mit ihm. Danach saßen sie auf der gefrorenen Erde, in ihre Umhänge gewickelt und Geist zwischen sich. Jon erzählte die Geschichte, wie Robb und er die neugeborenen Welpen im spätsommerlichen Schnee gefunden hatten. Es schien schon tausend Jahre her zu sein. Es dauerte nicht lange, bis er sich von Winterfell erzählen hörte.
»Manchmal träume ich davon«, sagte er. »Ich laufe durch diesen langen, leeren Saal. Meine Stimme hallt von überall, doch niemand antwortet, und so laufe ich schneller, öffne Türen, rufe Namen. Ich weiß nicht einmal, wen ich suche. In den meisten Nächten ist es mein Vater, doch manchmal ist es stattdessen Robb oder meine kleine Schwester Arya oder mein Onkel.« Der Gedanke an Benjen Stark stimmte ihn traurig. Sein Onkel wurde noch vermisst. Der alte Bär hatte einen Suchtrupp ausgesandt. Ser Jaremy Rykker hatte zwei solche angeführt, und Quorin Halbhand war vom Schattenturm aus losgegangen, doch hatten sie, abgesehen von einigen Markierungen an Bäumen, mit denen sein Onkel seinen Weg gezeichnet hatte, nichts gefunden. Im steinigen Hochland des Nordwestens hatten die Markierungen plötzlich aufgehört, und es hatte sich keine Spur von Ben Stark mehr gefunden.
»Findest du jemals jemanden in deinen Träumen?«, fragte Sam.
Jon schüttelte den Kopf. »Nie. Die Burg ist immer leer.« Noch nie hatte er irgendwem von diesem Traum erzählt, und er begriff auch nicht, warum er jetzt Sam davon erzählte, doch irgendwie war ihm wohl dabei, darüber zu reden. »Selbst die Raben sind aus ihrem Horst verschwunden, und die Ställe sind voller Knochen. Das macht mir immer Angst. Da fange ich an zu laufen, werfe Türen auf, stürme den Turm hinauf, immer drei Stufen auf einmal, rufe nach jemandem, irgendjemandem. Dann finde ich mich vor der Tür zur Gruft wieder. Drinnen ist es schwarz, und ich kann die Wendeltreppe sehen, die in die Tiefe führt. Irgendwie weiß ich, dass ich hinuntergehen muss, doch ich will nicht. Ich fürchte mich
vor dem, was mich dort erwarten könnte. Die alten Könige des Winters sind dort unten, sitzen auf ihren Thronen, mit steinernen Wölfen zu ihren Füßen und eisernen Schwertern auf dem Schoß, doch nicht vor denen fürchte ich mich. Ich schreie heraus, dass ich kein Stark bin, dass ich dort nicht hingehöre, aber es nützt nichts. Ich muss dennoch gehen, also steige ich hinab, betaste dabei die Wände, ohne Fackel, mit der ich mir den Weg leuchten könnte. Immer dunkler wird es, bis ich schreien möchte.« Er hielt inne, fragend, verlegen. »Da wache ich dann immer auf.« Mit kalter und klammer Haut, zitternd im Dunkel seiner Zelle. Geist sprang dann neben ihm aufs Bett, und dessen Wärme war so tröstend wie der Sonnenaufgang. Stets schlief er dann mit dem Gesicht im zottig weißen Haar des Schattenwolfes ein. »Träumst du von Hornberg?«, fragte Jon.
»Nein.« Sams Mund wurde schmal und hart. »Ich habe es gehasst dort.« Brütend kraulte er Geist hinter einem Ohr, und Jon ließ dem Schweigen Raum. Nach einer langen Weile begann Samwell Tarly zu erzählen, und Jon Schnee lauschte wortlos und erfuhr, wie es sein konnte, dass ein erklärter Feigling zur Mauer kam.
Die Tarlys waren eine Familie von alten Ehren, Vasallen von Maas Tyrell, dem Lord von Rosengarten und Wächter des Südens. Als ältester Sohn von Lord Randyll Tarly sollte Samwell reiches Land, eine starke Festung und ein sagenumwobenes, doppelhändiges Schwert mit Namen Herzbann erben, geschmiedet aus valyrischem Stahl und seit fast fünfhundert Jahren vom Vater an den Sohn vererbt.
Aller Stolz, den sein Vater bei Samwells Geburt empfunden haben mochte, verflog, als der Junge zu einem tumben, weichen und ungeschickten Kind heranwuchs. Sam hörte gern Musik und spielte seine eigenen Lieder, trug weichen Samt, spielte in der Küche bei den Köchen und sog die saftigen Düfte in sich auf, während er Zitronenkuchen und Blaubeertörtchen stibitzte. Seine Leidenschaft gehörte den Büchern, kleinen Katzen und dem Tanzen, so ungeschickt er
auch sein mochte. Doch wurde ihm übel, wenn er Blut sah, und er weinte schon, wenn auch nur ein Huhn geschlachtet wurde. Ein Dutzend Waffenmeister kam und ging auf Hornberg und versuchte, aus Samwell den Ritter zu machen, den sein Vater sich wünschte. Der
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