Das Löwenamulett
Wolke milderte sein Feuer. Delia und ich hatten die Ascaniusgasse hinter uns gelassen und schlenderten durch die engen Straßen der Subura. Bis der ›Röhrende Eber‹ sein finsteres Maul öffnen würde, blieben uns noch zwei oder drei Stunden Zeit. Wir waren hin- und hergerissen. Sollten wir wirklich dorthin gehen? Konnten wir die Stunden bis dahin irgendwie nutzen? Gab es nichts anderes, was wir tun konnten?
Immer wieder betrachteten wir alle Fakten, die wir kannten, von jeder nur erdenklichen Seite, und immer wieder kamen wir zu dem Schluss, dass wir keine andere Wahl hatten, als uns an Urbicus’ Fersen zu heften, obwohl wir noch immer 102
keinen Beweis dafür hatten, dass er wirklich der Täter war.
Nur das sichere Gefühl, dass er es sein musste.
Wir waren furchtbar unruhig und merkten, dass wir nicht weiterkamen. Und dass uns die Zeit davonlief.
Es war Delia, die schließlich vorschlug, ihren Vater doch in die Sache einzuweihen, ihm zumindest von dem Amulett und von unserem Verdacht zu erzählen.
»Vielleicht kann er uns ja doch helfen«, meinte sie.
»Du hast recht«, sagte ich. »Das könnte nützlicher sein, als ziellos durch die Stadt zu streichen. Und ungefährlicher als diese Kneipe.«
Delia nickte. »Aber wir dürfen ihm auf keinen Fall sagen, dass wir in den ›Röhrenden Eber‹ wollen! Mein Vater würde uns niemals dorthin lassen.«
»Wir wollen da nicht hin«, sagte ich. »Wir müssen. Wenn dein Vater uns nicht weiterhelfen kann.«
Wenig später standen wir im Atrium, dem Innenhof des Hauses der Familie Ovid, am Rande des Impluviums, in dem sich das Regenwasser sammelte.
»Der Herr ist oben in der Bibliothek«, erzählte uns Lydia, die eben die Treppe herunterkam. »Aber er wünscht, nicht gestört zu werden«, fügte sie mit spitzen Lippen hinzu und verschwand mit wehender Tunica in Richtung Küche.
Delia rollte die Augen. »Bei Iuno!«, sagte sie, als sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte. »Die spielt sich auf, als sei sie die Herrin des Hauses. Das traut sie sich nur, wenn Mama nicht da ist.« Sie stieg die Treppe hinauf, ich folgte ihr. »In ein paar Tagen wird sie zurück sein, dann wird Lydia sich wieder benehmen.«
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Oben angekommen, klopfte Delia vorsichtig an die Tür zur Bibliothek, die ihr Vater sich in einem Zimmer, das auf den Garten hinausblickte, eingerichtet hatte. Obwohl nichts zu hören war, öffnete sie die Tür.
»Papa?«
»Hm.«
»Dürfen wir dich kurz stören? Es ist wichtig.«
»Hm.«
Delia trat über die Schwelle, ich folgte ihr. Ovid saß an einem großen Tisch, auf dem Schreibtafeln, Papyrusblätter und Schriftrollen in einem wilden Chaos durcheinanderlagen. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und grübelte über einer Wachstafel. An allen Wänden des Raumes standen Regale, die bis unter die Zimmerdecke reichten und über und über gefüllt waren mit Schriftrollen. Wir traten an den Tisch heran.
»Papa, hörst du mich? Es ist wirklich sehr wichtig!«
Plötzlich, als hätte ihn ein Skorpion gestochen, sprang Ovid auf, stieß den Stuhl um und breitet die Arme aus.
»Quodsi fata negant veniam pro coniuge, certum est nolle redire mihi: Leto gaudete duorum!«*
Ovid blickte in weite Ferne und strahlte übers ganze Gesicht. Ich wich einen Schritt zurück und starrte ihn an. Ich befürchtete das Schlimmste. War er verrückt geworden? Delia schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, einige Blätter fielen zu Boden.
* »Doch wenn das Schicksal missgönnt für meine Gattin die Gnade, / dann will auch ich nicht zurück, dann freut euch am Tod von uns beiden!« (Zitat aus Ovids Metamorphosen, Buch 10, Vers 38 f.: Orpheus spricht in der Unterwelt vor Pluto und Proserpina.)
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»Papa, komm zu dir! Du kannst gleich weiterdichten.«
»Wie? Was ist los?«
Ovid ließ die Arme sinken und blickte uns an, als seien wir zwei grüne Baumnymphen. Er kam mir vor, als hätten wir ihn aus einem schönen Traum gerissen.
»Das ist ganz normal«, flüsterte Delia. »Wenn er arbeitet, taucht er ab in eine ganz andere Welt.«
»Ich war gerade im Hades.« Er strich sich verlegen durchs Haar. »Ich meine, in Gedanken. Ich war Orpheus, hielt meine Lyra im Arm und stand vor Pluto und Proserpina und habe …«
»Hör zu«, fiel Delia ihrem Vater ins Wort. »Wir wissen, wer Senator Metellus überfallen hat.«
Ovid runzelte die Stirn. »Das weiß ich auch. Dieser neue Sklave.«
»Nein«, sagte Delia, »das ist falsch. Myron war in der letzten Nacht noch
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