Das Löwenamulett
»Ich werde es versuchen.
Versprechen kann ich natürlich nichts. Ihr müsst euch keine Sorgen machen!«
Ich holte tief Luft. Keine Sorgen machen! Ovid hatte gut reden. So einfach wollte ich mich nicht beruhigen lassen.
Delia hatte recht: Unsere ganze Hoffnung auf diesen alten Senator zu setzen, war naiv und gefährlich. Gefährlich für Myron …
»Senator Metellus geht es übrigens schon viel besser«, fuhr Ovid fort. »Der Medicus war schon da und hat dem Senator ein Mittel gegen die Kopfschmerzen gegeben. Er wird bald wieder auf den Beinen sein. Und seine Frau ist 108
heute aus Tusculum zurückgekommen. Sie kümmert sich um ihn. Afra war vorhin hier und hat alles erzählt.«
»Das sind gute Neuigkeiten«, sagte Delia.
Was hatte Ovid eben gesagt? Aus Tusculum? Offenbar hatte die halbe Welt dort ihr Landhaus. Ich musste an Pacuvius und seine Familie denken, die dort zu Hause gewesen waren und hatten gehen müssen, weil ihr raffgieriger Patron dort ebenfalls ein Haus haben wollte. Die Welt war ungerecht. Mir blieb keine Zeit mehr, länger darüber nachzudenken.
»Lass uns gehen«, sagte Delia zu mir. »Wir wollen meinen Vater nicht länger stören und können die Zeit bis Senator Corvinus’ Ankunft vielleicht …«, sie zwinkerte mir verschwörerisch zu, »… anders nutzen.«
»Keine weiteren Dummheiten!« Ovid hob drohend den Zeigefinger.
»Nein, Papa. Bestimmt nicht. Wir gehen nur ein bisschen spazieren.«
Ovid schaute uns skeptisch hinterher, als wir sein Arbeitszimmer verließen. Vor dem Haus berieten wir uns.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
Delia seufzte. »Ich glaube, wir haben nur noch eine Mög-lichkeit.«
Ich ahnte, worauf sie hinauswollte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. »Du meinst, wir müssen wirklich …?«
Delia nickte entschlossen. »Ich glaube nicht, dass der alte Senator irgendetwas erreichen kann. Jedenfalls nicht in dieser kurzen Zeit. Wir müssen selbst etwas unternehmen.«
Sie hatte recht. Dass wir ihren Vater eingeweiht hatten, 109
hatte uns nicht wirklich weitergebracht. Jetzt konnten wir nur noch eines tun.
»Also dann«, sagte ich und holte tief Luft, »auf zum Circus Maximus! Weißt du, wo diese Kneipe genau liegt? Ich meine, der Circus ist riesig.«
»Wir fragen uns wieder durch«, sagte Delia. »Das sollte kein Problem sein. Taugenichtse und Faulpelze, die alle Spe-lunken dieser Stadt kennen, gibt es in Rom genug.«
Es dauerte keine Stunde, da hatten wir den ›Röhrenden Eber‹
gefunden. Es war eine der unzähligen kleinen Kneipen, die um den Circus Maximus herumlagen wie Frösche um einen Teich. Sie lag in einer dunklen Seitengasse im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses, das so alt und schäbig aussah, als sei es schon zur Zeit des Romulus erbaut worden. Die Leute, die in den oberen Stockwerken wohnten, hatten sicherlich schon mit ihrem Leben abgeschlossen, denn das Haus wirkte, als wollte es jeden Moment einstürzen. Über der offenen Tür hing ein schiefes Brett, auf das vor vielen Jahren eine ungeschickte Hand einen grimmig dreinblickenden Kei-ler gemalt hatte, darunter stand in verwitterten Buchstaben AD VERREM FREMENTEM*
»Und jetzt?«, fragte Delia.
Ich dachte an Urbicus und stellte mir vor, wie er in diesem düsteren Loch dort mit seinen Saufkumpanen schon unzäh-
* Zum Röhrenden Eber
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lige Krüge geleert hatte. Keine zehn Pferde hätten mich unter normalen Umständen in diese Kneipe gebracht. Doch dann dachte ich an Myron, der jetzt in einem finsteren Keller saß und dessen einzige Hoffnung Delia und ich waren.
»Lass uns hineingehen!«, hörte ich Delia sagen. Ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Meinst du, die lassen uns überhaupt …?«
»Na los«, sagte Delia. »Fortes Fortuna adiuvat.«*
»Findest du wirklich, dass wir mutig sind?«, fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir waren heute immerhin schon in einer Gladiatorenschule. Da kann uns doch nichts mehr schrecken, oder?«
Ich seufzte. Delia hatte recht. Worauf hatten wir uns da nur eingelassen?
Wenige Augenblicke später waren wir durch die Tür geschlüpft und standen im ›Röhrenden Eber‹. Ich hatte mir die Kneipe größer vorgestellt. Es war ein kleiner, dunkler Raum mit vier oder fünf groben Tischen, an deren Längsseiten Bänke standen. Die einzelnen Tische waren durch Bretter-wände voneinander getrennt, sodass man nicht sehen konnte, wer am Nachbartisch saß. Zwei winzige Fenster ließen etwas Licht herein, das
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