Das Los: Thriller (German Edition)
Wappen, das einen züngelnden Doppeladler zeigte. Darunter stand etwas in kyrillischer Schrift geschrieben.
»Ein russischer Pass«, sagte sie überrascht. Als sie ihn aufklappte, blickte sie sich selbst von einem Foto entgegen. Daneben standen ein falsches Geburtsdatum und ein Name. Glücklicherweise waren die Bezeichnungen nicht nur in kyrillischer, sondern auch in lateinischer Schrift wiedergegeben.
»Tatjana Wiktorowna Wesnina«, las sie laut vor und warf erst Henri, dann dem Griechen einen tadelnden Blick zu.
Der hob abwehrend die Hände. »Gute Reise«, wünschte er lächelnd.
Wenig später standen sie beide wieder in der schmalen Gasse, ihre neuen Pässe in den Taschen.
»So eine ›Art Reisebüro‹ also«, sagte Trisha und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. »Schuldet eigentlich jeder in dieser Stadt, der einmal im Gefängnis gesessen oder dort gearbeitet hat, dir etwas?«
»Es gibt da drin mehr Mörder als Anwälte«, antwortete Henri und schloss seinen neuen Mantel. Dann fragte er: »Gehen wir was essen, Tatjana?«
Sie nickte. »Kennst du eine ›Art Restaurant‹ in der Nähe, Henri?«
»Igor«, sagte er, während sie zur Hauptstraße schlenderten.
»Heißt so das Restaurant?«, erkundigte sich Trisha.
Henri schüttelte den Kopf. »Nein, ich.«
51
B ERLIN , 1764
Der Frühling ließ alles leichter erscheinen. Nicht nur, dass Calzabigi sich wie aus einer monatelang währenden Starre befreit fühlte. Auch die Menschen, die seinen Weg kreuzten, die Gespanne und selbst die streunenden Hunde schienen gelöster, ihre Bewegung fließender. Marie hatte schon früh das Haus verlassen, um mit einer Freundin, die er nicht kannte, einen Ausflug zu unternehmen. Nach Monaten, in denen sie kaum das Haus verlassen hatte, während er in seiner Arbeit fast erstickte, war sie nun geradezu unternehmenslustig geworden. Auch ihr Herz schien vom Frühling ergriffen zu sein. Seit Wochen kam sie ihm viel glücklicher vor, und dies gab auch ihm neue Hoffnung, sie an seiner Seite zu halten. Manchmal brauchte etwas nur Zeit, um zu gelingen, wie auch die Lotterie nun endlich bewies.
Fröhlich pfeifend klopfte er gegen die Tür, und als diese geöffnet wurde, bestätigte sich sein Eindruck einmal mehr. Nicht mehr der alte Griesgram öffnete, sondern ein junger Spund von vielleicht gerade zwanzig Jahren.
»Wo ist Adolf, das alte Schlachtross?«, fragte er, während der Jüngling ihn in den Salon führte.
»Monsieur Hauser ist verstorben. Schon vor Weihnachten.«
Betroffen schwieg Calzabigi. Das war die Kehrseite jeder Erneuerung: Das Alte musste weichen.
»Ihr ward nicht angekündigt«, sagte eine schneidende Stimme. Sie gehörte unverkennbar Hainchelin.
»Wohl wahr. Nehmt mein aufrichtiges Beileid für den Verlust Eures treuen Adolfs entgegen.«
Hainchelin ging mit tragender Miene zu einem der Sessel vor dem Kamin, der erloschen war und den Geruch kalten Rauchs verströmte, und setzte sich. Calzabigi tat es ihm gleich.
»Dreiunddreißig Jahre war er für unsere Familie tätig. Hat mehrere Kriege überlebt, und dann rafft ihn eine Verkühlung einfach so dahin«, sagte der Hofrat mit ernsthaftem Bedauern. »Ich schätze aber, Ihr seid nicht gekommen, um mir Euer Beileid zu bekunden.«
Calzabigi schüttelte den Kopf. Er zeigte auf die Fensterläden, die halb geschlossen waren und kaum Licht in den Raum hineinließen.
»Habt Ihr einmal hinausgeschaut?«, fragte er. »Der Frühling ist im vollen Gange, alles präpariert sich für die warmen Sommermonate. Die Natur erwacht.«
Hainchelin hob pikiert eine Augenbraue in die Höhe. »So seid Ihr als Frühlingsbote gekommen?«
Calzabigi ließ sich dadurch seine gute Laune nicht verderben. Er wollte es genießen und hatte sich auf dem Weg hierher entschieden, es langsam angehen zu lassen. »Wenn Ihr so wollt, bin ich das. Ich zitiere eine Strophe aus Friedrich von Hagedorns Gedicht Der Frühling , vielleicht wird Euch das ja als Inspiration dienen:
Dort lässt sich wiederum, in grünenden Trophäen,
Des Winters Untergang, der Flor des Frühlings sehen;
Sein schmeichelnder Triumph beglücket jede Flur:
Die frohen Lerchen fliegen
Und singen von den Siegen
Der täglich schöneren Natur.«
Calzabigi hatte in den vergangenen Wochen damit begonnen, sich ein wenig intensiver mit der deutschen Sprache zu beschäftigen. Da er ihren Klang eigentlich nicht mochte, hatte er beschlossen, sich ihr von der schönen Seite zu nähern. Und so hatte er an einem der vielen
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