Das Los: Thriller (German Edition)
nicht gezeichnet wurden. Deins und noch drei weitere. Niemals zuvor waren wir so dicht vor der Ziehung …« Zum ersten Mal glaubte Henri bei seinem Gegenüber so etwas wie Überschwang wahrzunehmen.
»Hast du die anderen drei Losberechtigten denn schon aufgesucht?«, erkundigte Henri sich.
Diesmal schüttelte der Mönch verneinend den Kopf.
»Keinen einzigen?«
Wieder schüttelte der Mönch den Kopf.
»Aber wenn alle vier mitmachen …«
»… dann findet die Ziehung endlich statt«, vollendete der Mönch feierlich den Satz.
»Mit nur vier Teilnehmern«, fasste Henri zusammen. »Und wenn einer der anderen drei Berechtigten den Erwerb des Loses ablehnt …«
»… dann geht das Recht zum Erwerb auf die nächste Generation über …«
»… und die Ziehung findet erst einmal nicht statt; und obwohl ich vielleicht ein Los gezeichnet habe, müsste ich Jahre oder Jahrzehnte auf die Ziehung warten«, führte Henri den Gedanken weiter aus. »Und wenn ich vor der Ziehung sterbe, verliere ich das Recht auf die Teilnahme.«
Das beipflichtende Nicken des Mönchs war diesmal überflüssig. Er hatte die bisher genannten Spielregeln verstanden.
»Aber es sind nur noch drei außer mir da. Die anderen wären doch verrückt, so kurz vor der Ziehung das Los abzulehnen!«, überlegte Henri laut. »Also sollte die Ziehung bald stattfinden.«
»Viele Teilnehmer haben in den letzten hundert Jahren abgelehnt«, gab der Mönch zu bedenken.
Unvermittelt hatte so etwas wie Spiellust Henri gepackt. »Ich mache mit!«, verkündete er, ohne weiter zu überlegen, und griff nach dem Los vor sich.
Doch mit einer blitzschnellen Handbewegung, die Henri ihm gar nicht zugetraut hätte, zog der Mönch den Umschlag zurück.
»Nicht so schnell, erst der Einsatz!«, sagte er.
Henri, der sich nun endlich traute, auch in das Gesicht des Mönchs zu schauen, nahm ein unheimliches Aufblitzen in dessen Augen wahr.
»Was für einen Einsatz?«, fragte Henri misstrauisch.
Der Mönch griff abermals unter seine Tunika und holte ein weiteres Blatt Papier hervor, welches ebenso vergilbt aussah wie der Umschlag auf dem Tisch.
»Was ist das?«, wollte Henri wissen. »Muss ich meine Seele verkaufen?« Sein Lachen blieb ihm im Halse stecken.
»Der Einsatz beträgt nicht weniger und nicht mehr als dein gesamtes Vermögen«, verkündete der Mönch. »Du musst auf dem Blatt unterzeichnen, dass du damit einverstanden bist.«
Henri stutzte. Nun begann er zu verstehen, warum bis heute noch nicht alle Lose dieser Lotterie verkauft worden waren, obwohl sie nach Auskunft des Mönchs seit Jahrhunderten existierte.
»Mein gesamtes Vermögen?«, echote er ungläubig.
Unter normalen Umständen hätte ihn die Höhe des Einsatzes abschrecken sollen. Doch er war ein Spezialfall. Er saß im Gefängnis. Der Begriff Vermögen hatte für ihn eine andere Bedeutung. Sein Vermögen bestand aus einem Konto, das die Gefängnisleitung für ihn führte und auf das er vier Siebtel seines Knast-Arbeitslohns zurücklegen musste, bis das Konto ein Plus von eintausendvierhundertsechzig Euro erreicht hatte. Dieses Geld sollte ihm bei der Entlassung den Weg ebnen. Sein Vermögen betrug somit lächerliche eintausendvierhundertsechzig Euro. Er lachte auf. Vermutlich hatte keiner so wenig Hemmungen wie er, sein gesamtes Vermögen für so ein Los einzusetzen. Ob es den anderen möglichen Teilnehmern auch so gehen würde, war zwar fraglich. Aber er hatte nichts zu verlieren.
»Wo soll ich unterschreiben?«, stieß Henri betont unerschrocken hervor.
Der Mönch schien erstmals zu zögern. »Du willst wirklich dein gesamtes Vermögen opfern? Hast du dir das auch gut überlegt?«
»Das Ganze«, bestätigte Henri, begleitet von einem spöttischen Lachen.
»Es ist für immer verloren, ob die Ziehung stattfindet oder nicht!«, warnte der Mönch.
»Wo soll ich unterschreiben?«, wiederholte Henri.
Der Mönch hatte begriffen, dass Henri es ernst meinte; er drehte das Papier auf dem Tisch herum und schob es Henri zu. Sein fleischiger Zeigefinger deutete auf einen freien Platz am Ende des Dokuments. Mit der anderen Hand hielt er Henri einen Kugelschreiber entgegen. Henri war ein bisschen enttäuscht, dass es sich nicht um eine mittelalterliche Schreibfeder handelte, dem Papier vor ihm wäre es würdig gewesen. Die Schrift darauf war altertümlich, und obwohl er versuchte, sie zu entziffern, verstand er kein Wort.
»Das ist Lateinisch«, erklärte der Mönch. »Soll ich
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