Das Los: Thriller (German Edition)
Nein, sie wollte die Antwort jetzt, am Anfang ihres Lebens; und sie wollte sie sich selbst holen. Jeder Pokertisch, an dem sie Platz nahm, war genauso gut geeignet wie die letzte Seite eines Buches, darüber zu bestimmen, ob die Geschichte – ihre Geschichte – gut ausging. Ein Sieg bei einem der Turniere, ein einziges goldenes Armband, eine Prämie jenseits der eine Million Dollar … ja, am besten der Sieg bei den Poker-Weltmeisterschaften: Das würde ein für alle Mal beweisen, dass sie, Trisha Wilson, Glück im Leben hatte. Und auch wenn der Reiz des Pokerspiels darin bestand, dass man nicht alles unter Kontrolle hatte, immer ein bisschen darauf hoffen musste, dass der andere vom Schicksal die schlechteren Karten zugewiesen bekommen hatte, so hatte sie doch nur beim Pokerspielen das Gefühl, ihr Leben selbst bestimmen zu können.
Ihr Versuch, in der Liebe das Glück zu finden, war grandios gescheitert. Was blieb ihr also noch außer dem Pokerspiel?
Sie fühlte, wie ihr Kopf von den vielen Gedanken ganz schwer wurde und tiefer im Kopfkissen versank. Der Duft von Bodylotion drang in ihre Nase. Hatte sie den Deckel zugemacht? Während sie darüber sinnierte, fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
14
N EW Y ORK C ITY
Beim Anblick der High Line bekam Carter Fields eine Gänsehaut.
Einst verband sie den Meatpacking District, auf den er aus dem Fenster seines Büros hinabblickte, mit dem Rest der Welt. Die auf der Hochbahntrasse fahrenden Güterwaggons wurden direkt aus den Obergeschossen der angrenzenden Lagerhäuser beladen und brachten die Waren über die gut zwölf Meilen lange Bahnstrecke zu den Verladeplätzen, von wo aus sie in alle Länder dieser Erde verschifft wurden. Damals war die Bahn das unangefochten beste, weil schnellste und sicherste Transportmittel. Mit der Verlagerung des Verkehrs von der Schiene auf die Straße endete jedoch, nach nur wenigen Jahrzehnten, abrupt die glorreiche Zeit der High Line.
Die Bagger kamen und rissen die Bahntrasse ab, die sich somit nur für kurze Zeit über alle Straßen New Yorks erhoben hatte. Lediglich ein stillgelegtes Teilstück überdauerte den Abriss und wurde auf Initiative der Einwohner dieses Viertels Abschnitt für Abschnitt nach dem Vorbild der Promenade plantee in Paris zu einer parkähnlichen Promenade umfunktioniert. Dort, wo früher in zehn Meter Höhe Schienen im Gleisbett verliefen, wuchsen heute Pflanzen.
Carter betrachtete durch sein Fernglas die Flora und Fauna auf der schmalen Trasse und schwenkte nach oben, als er die Stelzen des Standard Hotels erreicht hatte. Auf Höhe der 13th Street erhob sich seit einiger Zeit das Hotel, das auf langen Pfeilern über der High Line gebaut worden war. Das eigentlich Besondere war jedoch, dass das Hotel von oben bis unten aus Glaswänden bestand, und zwar in allen Räumen. »Alle Räume« bedeutete in diesem Fall wirklich alle. Selbst die Toilettenräume im Club des Hotels waren verglast und gewährten so dem Betrachter einmalige Einblicke. Das Gleiche galt für die Zimmer. Obwohl überall im Hotel entsprechende Warnungen platziert waren, wovon Carter sich anlässlich eines Besuchs mit einer fast minderjährigen Masseuse selbst überzeugt hatte, ignorierten viele Gäste diese Hinweise, ob aus exhibitionistischer Neigung oder aus Versehen.
Carter stellte sich in seiner Fantasie vor, dass die meisten Hotelbesucher jene Warnschilder einfach übersehen hatten, und suchte von seinem neuen Büro aus die Zimmer des gegenüberliegenden Hotels ab – zum Teil aus Neugierde und Belustigung, zum großen Teil aber aus voyeuristischer Erregung. Es kam nicht selten vor, dass man dort junge Menschen beim Sex beobachten konnte, und schon mehrmals hatte er sich beim Zusehen Erleichterung verschafft.
Plötzlich klopfte es, und Carter fuhr herum. Hektisch legte er das Fernglas in eine Schublade seines Schreibtisches, ordnete seine Krawatte und rief nervös: »Ja doch!«
Die Tür öffnete sich, und wie erwartet trat ein Mann mit strengem Seitenscheitel und gepflegtem Schnauzer ein. Zu einem hellbraunen Anzug trug er ein blaues Hemd und eine weinrote Fliege. Es war Marc Boulvier, sein Buchhalter. Er war gut fünfzehn Jahre jünger als Carter und besaß ein kleines Büro in Lower Manhattan.
»Ich werde mich nicht daran gewöhnen, dass du hier im Meatpacking District sitzt!«, bemerkte der Buchhalter und schloss die Tür hinter sich. »Wann kommst du endlich wieder zurück in dein Büro im Plaza District, Carter? Ich war heute
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