Das Los: Thriller (German Edition)
spät war.
Endlich erhob sich vor ihm der weiße Zeltbau der Rangsharda Hall. Er hatte für den Fußweg wegen der Hitze deutlich über eine Stunde benötigt, sodass die Ziehung bereits beendet war. Schon von Weitem drang der verzerrte Klang billiger Boxen in seine Ohren. Irgendjemand zählte Nummern auf, wie ein Gebet. Gerade als Pradeep einen der Eingänge des rechteckigen Zelts ansteuerte, um die Quelle der Lautsprecheransagen auszumachen, wurden die Zeltwände plötzlich hochgerollt, und ein Meer aus Menschen strömte ihm wie aus einer Schleuse entgegen. Pradeep drehte der auf ihn zurollenden Welle rasch den Rücken zu, als würde er sich in eine Brandung fallen lassen, und spürte im nächsten Moment bereits den Druck drängender, verschwitzter Körper, die ihn mitrissen. Das Gemurmel der unterschiedlichsten Dialekte um ihn herum, von denen er viele nicht verstand, erinnerte ihn an das Rauschen der Brandung am Juhu Beach. Bei genauerem Hinhören vernahm er ein Lachen und Weinen, Jauchzen und Wehklagen, Schimpftiraden und Dankesgebete. So klingt die Lotterie, dachte er. Plötzlich tauchte vor ihm eine lange Reihe Absperrgitter auf, und gerade als er befürchtete, daran zerdrückt zu werden, beruhigte sich die Woge in seinem Rücken, und er kam kurz davor zum Stehen.
Jetzt erst bemerkte er hinter den Gittern die Stellwände, an denen lange Listen mit Namen und Zahlen angeschlagen waren. Die Gewinnerlisten. Er spürte, wie sich bei ihrem Anblick sein Herz zu einer kleinen Rosine zusammenzog.
Aufgeregt verteilten sich um ihn herum die Mitspieler und suchten die Listen nach ihren Losnummern ab. Pradeep verdankte es Ramish, einem der Anführer in seiner Straßengang, dass er sich mit Zahlen gut auskannte. Die Zahlen, so hatte Ramish immer gesagt, seien die Buchstaben der Reichen. Schließlich bestand ein Bankkonto nicht aus Wörtern, sondern aus Nummern. Vielleicht hatte er aber auch nur sicherstellen wollen, dass sich Pradeep, wenn er beim Dealen von Haschisch oder Korrekturflüssigkeit aushalf, nicht übers Ohr hauen ließ.
Pradeep kramte in seiner Tasche und holte ein an den Rändern zerfranstes Stück Papier hervor. Nachdem er es auseinandergefaltet hatte, suchte er mit zitternden Händen nach seiner Gewinnnummer, obwohl er sie eigentlich auswendig kannte. Hundert, vielleicht tausend Mal hatte er sie sich in den letzten Tagen eingeprägt. Zuerst mit dem Wunsch, dass sie gezogen würde, zuletzt in der Hoffnung, dass dem Schicksal diese Zahlenkombination unbekannt bliebe. 3, 4, 1, 9, 0 . Er suchte mit wackeligen Knien die Liste, auf der die Gewinnzahlen veröffentlicht waren, die mit der Ziffer 3 begannen. Sein Blick wanderte über die vielen kleinen Ziffern, und als er unter den nachfolgenden Nummern keine fand, die der seinen glich, kehrte langsam die Hoffnung zu ihm zurück.
Ein Gefühl wie sonst nur beim Trinken von heißem Tee breitete sich in ihm aus, als er daran dachte, wie er nach Hause kommen und Janni freudig berichten würde, dass sie nicht in der Lotterie gewonnen hatten und er schon nächste Woche ihr ganzes Geld zurückbezahlt bekäme. Dann würde er zu Pandita gehen, ihr über die meist warme Stirn streicheln und einen Kuss auf die geschlossenen Augen geben. Und wenn er Glück hatte und sie bei Bewusstsein war, würde sie ihm ihr ebenso angestrengtes wie unschuldiges Lächeln schenken.
Und da sah er sie.
Ihm war, als habe er einen Schlag in die Magengrube erhalten, der ihm die Luft zum Atmen nahm. Zuletzt hatte er einen vergleichbaren Schmerz gespürt, als sein Freund Budhia vor seinen Augen vom Zug überfahren wurde, als sie gemeinsam auf den Gleisen nach Pfandflaschen gesucht hatten.
Vermutlich war sie in Wirklichkeit nicht größer gedruckt als die anderen Nummern, aber Pradeep kam es so vor. Wie in Trance verglich er immer wieder die Ziffern der gedruckten Zahl vor sich mit der Nummer in seinem Kopf, und obwohl alles um ihn herum kreiste, blieb es dabei: Seine Nummer stand auf der Liste vor ihm.
Pradeep fuhr sich durch die Haare und drängelte sich durch die Menschenmassen, die hinter ihm darauf warteten, endlich auch einen Blick auf die Stellwand werfen zu können. Fühlte er sich vorhin wie auf einer Welle getragen, so kam es ihm nun vor, als würde er in tiefen Gewässern tauchen. Alles um ihn herum verschwamm, und von den Geräuschen, die weit weg schienen, nahm er nur noch Vibrationen wahr.
Plötzlich schlug ihm jemand auf die Brust. Er benötigte einen Moment, um die Konturen des
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