Das Los: Thriller (German Edition)
lachenden Gesichts vor sich genau zu erfassen. Es kam ihm bekannt vor, und während er aus den Tiefen seiner Sorgen wieder auftauchte, erkannte er in dem Mann vor sich die Gesichtszüge eines Jungen, mit dem er als Kind eine Zeit lang am Chhatrapati Shivaji Terminus, dem Hauptbahnhof im südlichen Mumbai, gelebt hatte. Er wühlte in seinem Gedächtnis nach dem Namen seines einstigen Kameraden, fand ihn aber nicht.
»Wenn das nicht der kleine Pradeep ist!«, rief der andere lachend und schlug ihm erneut auf die Brust, sodass Pradeep ein Stück nach hinten wankte.
»Das ist Pradeep. Wir haben früher zusammen am Victoria Terminus rumgehangen!«, wandte er sich erklärend an einen etwa gleichaltrigen Begleiter.
Der hob die Hand zum Gruß.
»Weißt du noch, wie wir immer die Tomaten auf dem Markt gestohlen und in einer leeren Rikscha gegessen haben?«, fuhr sein Freund aus vergangenen Tagen fort. »Unser Rekord lag bei einundzwanzig an einem Tag. Heute gibt es nicht mehr so leckere Tomaten!«
Pradeep mühte sich ein freundliches Lachen ab und nickte. Ihm war nicht nach Plauderei zumute, und am liebsten wollte er es bei einem kurzen Gruß belassen und dann rasch weitergehen.
»Du siehst aus wie sieben Tage Regenwetter, Pradeep«, bemerkte der andere und verzog das Gesicht zu einer traurigen Grimasse.
Plötzlich fiel es ihm wieder ein: Sushil war der Name seines alten Weggefährten. Bei der Erinnerung an den Geschmack der saftigen Tomaten war es ihm wieder in den Sinn gekommen.
Sushils Blick wanderte zu den Stellwänden hinter Pradeep.
»Ah, ich verstehe. Du hast nicht gewonnen!«
Nein, das Problem war, dass er gewonnen hatte, dachte Pradeep. Er hatte jedoch keine Lust, den beiden die ganze Geschichte zu erzählen, und nickte stattdessen nur.
»Mach dir keinen Kopf«, sagte Sushil tröstend und klopfte ihm diesmal auf die Schulter. »Mein Freund Vijay und ich sind auch wieder leer ausgegangen. Das heißt, ein weiteres Jahr auf der Pipeline in Indira Nagar!« Sushil lachte und umarmte seinen Kumpel.
In Indira Nagar lebten die Menschen in einem Slum direkt auf der großen Wasserpipeline. Pradeep war als Plastiksammler früher häufiger dort gewesen.
»Oder ich verkaufe eine Niere; dann kann die MHADA mich mal mit ihrer Scheißlotterie«, ergänzte Sushil.
Nun wurde Pradeep hellhörig. »Eine Niere?«, hakte er nach.
»Zeig’s ihm!«, antwortete Sushil und zupfte seinen Begleiter am T-Shirt.
Vijay schob mit geübtem Griff den Saum seines T-Shirts hoch. Zum Vorschein kam eine lange, wulstige Narbe, die sich vom Rücken quer bis zum Bauch zog. Es war offenkundig, dass er sie schon oft gezeigt hatte.
Pradeep wurde bei dem Anblick ein wenig schwindelig. »An wen hast du sie verkauft?«, fragte er unsicher.
»Ein Freund kennt einen Freund, der einen Freund kennt, und der hat sie rausgenommen. Wer sie jetzt drin hat, weiß ich gar nicht«, antwortete er und zog sein T-Shirt wieder herunter.
»Und wie viel hast du dafür bekommen?«, wollte Pradeep wissen.
»Vierhunderttausend Rupien.« Er grinste stolz.
»Vierhunderttausend?«, wiederholte Pradeep ungläubig.
»Mit dem Geld kann man auf eine Wohnung sparen«, warf Sushil ein.
»Und braucht man so eine Niere nicht?«, erkundigte Pradeep sich. Er musterte Sushils Freund. Seine Augen waren ein wenig gelb, seine Wangen wirkten wie ein eingefallenes Zelt, aber er schien gesund zu sein.
»Man braucht nur eine Niere«, behauptete er. Dann zeigte er auf seine Augen, kniff eines fest zu und blickte sich demonstrativ mit dem offenen Auge um. »Ich sehe alles!«, stellte er fest. »So ist es auch mit den Nieren – eine ist total überflüssig.«
»Da trägt man jahrelang ein Vermögen mit sich rum und weiß es gar nicht«, ergänzte Sushil grinsend.
»Tut das weh?«, fragte Pradeep.
»Nicht so weh, wie arm zu sein«, antwortete Sushils Freund.
Sushil musterte seinen einstigen Kameraden. »Wenn du interessiert bist, eine zu spenden, dann melde dich bei mir«, sagte er. »Ich kann dich mit den Leuten bekannt machen.«
Pradeep nickte.
»Du findest mich in dem Telefonladen an der Indravadan Oza Road, direkt neben dem Hospital«, sagte Sushil. »Dort arbeite ich!«
»Ich überleg es mir«, meinte Pradeep.
»Denk dran, du kannst dir damit deine Träume erfüllen. Vergiss die Lotterie!«, sagte Vijay.
»Du weißt, wo du mich findest«, verabschiedete Sushil sich und schlug Pradeep erneut freundschaftlich auf die Brust. Plötzlich wandte Sushil sich nach rechts und
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