Das Los: Thriller (German Edition)
hatte ein wenig zu laut gesprochen. Nicht, dass ein Wärter auf dem Gang auf ihn aufmerksam wurde.
»Du erwähntest diesen Notaio in Rom, bei dem die Ziehung stattfinden soll. Also, ich fand seine Nummer im Telefonbuch und habe dort angerufen. Erst machte er auf Notar, von wegen Schweigepflicht und so, doch als ich sagte, ich sei Kunsthändler und wolle Pater Pius ein Angebot wegen eines alten Manuskripts unterbreiten, meinte er, soweit er wisse, sei Pater Pius auf einer Weltreise. Im Moment wohl gerade in Las Vegas.«
Henri musste die vielen Informationen erst einmal ordnen und schwieg.
»Bist du noch da?«, fragte der Belgier.
»Ein Mönch übergibt mir ein Los und ist jetzt in Las Vegas? Was ist das für eine Geschichte«, dachte Henri laut und massierte sich mit der freien Hand die Stirn.
»Dasselbe wollte ich dich fragen«, bemerkte der Belgier.
Henri holte tief Luft. »Ich hab keine Ahnung. Dieser Mönch hat mir das Los gegeben und ist dann abgedampft.«
»Ist viel Geld im Spiel?«
»Ein Preis von unermesslichem Wert«, zitierte Henri den Mönch.
»Du kannst da im Knast nichts machen …«, gab Verbeeck zu bedenken.
Henri nickte, ohne daran zu denken, dass Verbeeck dies nicht sehen konnte. Als Sträfling telefonierte man nicht so oft.
»Es ist dein Los. Aber wenn wir den Gewinn sechzig zu vierzig teilen, fühle ich dem Mönch mal auf den Zahn. Vielleicht kann man was drehen.«
»Du hast recht. Es ist mein Los. Siebzig zu dreißig.«
Einen Moment schien die Leitung tot. Henri schaute aufs Display. Die Sekunden, die die Gesprächsdauer anzeigten, liefen weiter.
»Okay. Dann also Las Vegas. Ich melde mich.«
»Viel Glück«, wünschte Henri, dann war das Gespräch beendet.
Nun hatte er also einen Partner. Einen verlängerten Arm da draußen. Dass der Mönch zur Voraussetzung gemacht hatte, dass er, der Knasti, an der Ziehung persönlich teilnehmen musste, hatte er Verbeeck nicht verraten. Wer weiß, vielleicht geschah bis dahin ja tatsächlich noch ein Wunder.
27
B ERLIN 1763
»Kommt! Folgt mir! Schaut Euch an, was der Lottoalchemist macht!«
Der Knabe war kaum zehn Jahre alt. Seine Hose, die bis kurz über die Knie reichte, war neu. Das Hemd, das er trug, leuchtete in der Sonne schneeweiß.
Ein Schmied, der vor seiner Werkstatt ein Stück Eisen bearbeitete, hielt den vorbeilaufenden Jungen an den Schultern fest und schüttelte ihn einmal durch. »Was machst du hier für einen Aufstand!«, schimpfte er. »Welcher Lottoalchemist?«
Der Bub schien nicht unfroh über die kleine Pause. Er holte tief Luft und schob die schweren Hände des Schmieds von sich. Die Schweißperlen liefen ihm von der Stirn und hinterließen feuchte Linien auf seiner Haut. »Im Castelletirens. Im Lotterieamt. In der Wilhelmer Straße. Der Italiener. Er bereitet die große Ziehung vor. Mit Zauberei. Gelber Rauch steigt aus dem Kamin!«. Das Kind riss sich wieder los und stürmte weiter in Richtung Friedriche Vorstadt.
Erst jetzt bemerkte der Schmied die Meute von aufgeregten Männern, Frauen und Kindern, die der Knabe wie einen Drachenschwanz hinter sich herzog. Im nächsten Moment ließ er Hammer und Amboss allein und schloss sich dem Umzug der Neugierigen an.
Als die Tür zu Calzabigis Büro geöffnet wurde, um einen Kessel hineinzutragen, schlüpfte der schmale Knabe durch den Spalt und kam vor dem Direktor der Lotterie zum Stehen.
»Und?«, fragte Calzabigi und strich dem Jungen über den Kopf.
»Schaut aus dem Fenster. Wie die Kutsche hinter den Pferden sind sie mir gefolgt!« Obwohl er immer noch nach Luft rang, grinste er breit.
Calzabigi trat an das Fenster und spähte vorsichtig hinaus. »Was für ein Auflauf!«, entfuhr es ihm. Er überflog die Anzahl der Köpfe, die sich vor dem Lotterieamt drängten. »Das sind mindestens zweihundertfünfzig, wenn nicht mehr!«
»Also dreifache Belohnung!«, stellte der Knabe stolz fest.
Calzabigi lächelte und steckte seinem kleinen Besucher ein paar Münzen in die Hand. »Du hast gewonnen. Gut gemacht! Und nun schleich dich hinten raus und lass dich nicht sehen.«
Erfreut zählte der Junge die Münzen und verschwand so flink, wie er gekommen war. Calzabigi schaute ihm lächelnd nach. Dann wandte er sich wieder dem Fenster zu und betrachtete triumphierend das Gedränge.
»Dann wollen wir der Menge da draußen mal etwas bieten!«, rief er aus und klatschte in die Hände.
»War das Charles, den ich da eben gesehen habe?«
Er fuhr herum und erblickte Marie, die mit
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