Das Los: Thriller (German Edition)
verlassen auf der Rampe stand. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er so etwas wie Zweifel.
31
M UMBAI
Als Zehnjähriger hatte Pradeep das Dorf seiner Eltern verlassen.
Damals war mit dem Monsun eine riesige Flutwelle durch das Tal gerollt und hatte das auf Stelzen gebaute Haus seiner Eltern in der Nacht weggerissen. Er erinnerte sich an das eiskalte Wasser, daran, wie seine Mutter seinen Namen schrie und den seiner Geschwister, bevor sie verstummte. Und an das Schwarze der Nacht, welches irgendwann noch schwärzer wurde. Als er erwachte, hing er fünf Meter über dem Boden in einer Weide, umgeben von Trümmern. Er war in eine Gegend getrieben worden, die er nicht kannte. Eine Woche lang war er umhergeirrt und hatte versucht, einen Weg nach Hause zu finden. Dann war er auf einen vorbeifahrenden Zug gesprungen, der wegen des vielen Strandguts entlang des Bahndamms sich nur in Schrittgeschwindigkeit vorwärtsbewegte. Mit jedem Rattern der Bahnschwellen wurde ihm schmerzlich bewusst, dass dieser Zug ihn nicht in sein altes Leben zurückbringen, sondern in eine unbekannte Zukunft befördern würde. Als die meisten ausstiegen, verließ auch er den Zug. Und so war er am Chhatrapati Shivaji Terminus gelandet.
Seitdem hatte Pradeep stets gewusst, dass er nichts Gutes zu erwarten hatte, wenn sich vom Süden her die schwarzen Monsunwolken wie eine dunkle Armee vor den Toren der Stadt versammelten.
So war es auch dieses Jahr gewesen. Mit dem böigen Wind fielen die ersten wenigen Tropfen, als er die Hütte erreichte. Janni hatte ihn auf seinem Prepaid-Handy angerufen, das er sich für solche Fälle von seinem letzten Geld gekauft hatte, und dabei nur geweint. Wieder einmal war er durch die Gassen Dharavis geflogen, schneller als der Wind, der den Müll wie eine Kehrmaschine vor sich hertrieb.
»Sie kann jederzeit sterben!«, hatte der Arzt erklärt, der das Stethoskop wie eine verwelkte Blumenkette um den Hals trug, und mitfühlend seine Mundwinkel nach unten gezogen.
Pradeep war zu Panditas Lager gestürmt und hatte sie, die ihre Augen nicht öffnete, zärtlich auf seinen Schoß gehoben. Er hatte ihre heiße Stirn geküsst, wieder und immer wieder. Dann hatte der Regen eingesetzt. Ohne Ankündigung. Von einem Moment auf den anderen trafen die dicken Regentropfen wie Trommelschläge auf das Blechdach der Hütte. Und während alle anderen sich in das Trockene des Raumes drängten, war er an ihnen vorbei hinausgestürmt. Er war durch den Regen gelaufen, der die engen Wege zwischen den Hütten augenblicklich in reißende Ströme verwandelte. Immer schneller war er gerannt. Und an einer tiefen Stelle, wo das Wasser wegen der verrotteten Siele bereits hüfthoch stand, war er gestrauchelt und für eine Sekunde in das Nass eingetaucht, das die Wolken über ihm ausschütteten.
Endlich hatte er, durchnässt wie ein Ertrinkender, die Rohbauten an der Mira Road erreicht. Vor der Kulisse des wolkenverhangenen Horizonts sahen sie aus wie riesige Totenschädel. Der Sturm zerrte an den Bambusgerüsten, die verzweifelt versuchten, sich an den nackten Beton zu klammern. Er hatte das Haus sofort wiedergefunden. Rasch war er die Betonstufen hochgerannt, vorbei an fensterlosen Räumen, in denen Arbeiter unter Wäscheleinen schliefen, bis er die oberste Etage erreicht hatte. Mit brennender Lunge war er durch das Loch in der Wand geschritten, das einmal seine Tür werden sollte. Hatte zwischen zwei gemauerten Wänden den zukünftigen Flur durchschritten und den großen Raum betreten, in dem zur Straße hin riesige Löcher klafften, die noch ohne Fensterscheiben waren. Er konnte gerade in ihnen stehen, ohne mit dem Kopf anzustoßen. Nun rüttelte der Wind – ärgerlich, dass er es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen – an seinen Beinen, und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Der Wind peitschte in sein Gesicht und wehte die Tränen, die seine Wangen hinabliefen, in Richtung seiner Ohren.
Ein, vielleicht zwei Jahre würde es dauern, bis er die gewonnene Wohnung beziehen könnte, hatte der für die Lotterie zuständige Mitarbeiter in der MHADA ihm erläutert. Solange dauerten die Bauarbeiten an dem Gebäudekomplex in der Mira Road noch an. Der Mann hatte ihm die Adresse genannt und ihm in einem Plan eingezeichnet, welches sein Appartement sein würde, und er war vor einigen Tagen bereits einmal hier gewesen und hatte sich alles angeschaut.
Pradeep hatte erst gebeten und dann gebettelt, den Gewinn nicht antreten zu
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