Das Los: Thriller (German Edition)
jedoch von sich gesprochen zu haben, jedenfalls hatte er immer wieder gestenreich auf sich selbst gezeigt.
Endlich drehte er die Trommel, öffnete eine Klappe und ließ Charles eine der rot-schwarzen Kapseln entnehmen. Nun begann das Prozedere, das Hainchelin in den vergangenen Wochen ausgearbeitet und dem Calzabigi nicht widersprochen hatte. Für ihn war das, was nun folgte, vergleichbar mit einer Tanzaufführung, und er überließ dem eitlen Pfau nur allzugern die Choreografie. Solange er es war, der die Musik komponierte. Eine Änderung hatte es kurzfristig noch gegeben: Nach seiner Benennung zum Gouverneur bestand von Hülsen darauf, der Ziehung beizuwohnen und höchst persönlich die gezogenen Zahlen zu verkünden. Calzabigi hatte es gefreut, da dies bedeutete, dass Hainchelin, der diese Aufgabe für sich proklamiert hatte, nun zurücktreten musste. So nahm von Hülsen das erste Etui von Charles entgegen, öffnete umständlich die beiden ineinandergesteckten Röhrchen und entfaltete das Los. Mit fisteliger Stimme rief er die Zahl in das Publikum und hielt anschließend mit ausgestreckten Händen den Velinstreifen mit der aufgedruckten 35 empor. Ein kollektives Stöhnen übertönte die Jubelschreie weniger. Es war diese scheinbar wahllose Selektion, die Calzabigi an der Lotterie faszinierte. Vor den Augen aller schlug das Schicksal nach seinen eigenen, unbekannten Regeln zu. Wie auf dem Schlachtfeld, wo einige von Kugeln niedergestreckt und die daneben Stehenden auf unverständliche Weise verschont wurden.
Anschließend überreichte der Gouverneur das Los mit der geöffneten Kapsel Hainchelin, der die Gewinnzahl Gotzkowsky in das von diesem geführte Protokoll diktierte. Danach erhielt der zweite Schöffe das Etui und das Los, erhob sich und warf beides in das Publikum. Darauf hatte Calzabigi bestanden, um das Vertrauen der Spieler in die Ehrlichkeit der Ziehung zu stärken. In Brüssel hatte er erlebt, wie das Misstrauen gegenüber der Lotterie diese ruinieren konnte. Der zweite Schöffe hieß David Jonathan von Tannenberg und war Kapitän der preußischen Flotte. Er fuhr mit der Dänischen Ostindien-Kompanie und stand kurz vor der Abreise nach Indien. Seine gute Bekanntschaft zu Hainchelin hatte ihm den Posten als zweiten Schöffen verschafft.
Der Vorgang wiederholte sich fünf Mal, bis die Zahlen der ersten Ziehung der preußischen Lotterie feststanden. Der 35 folgten die 43, danach die 74, die 13 – bei dieser Zahl ging ein besonders lautes Raunen durch die Menge – und zum Abschluss die 22. Es war wieder Hainchelin, der die Veranstaltung mit einigen schwülstigen Sätzen beendete.
Gespannt hatte Calzabigi die Reaktion der Zuschauer beobachtet. Auch wenn er sich durchaus ein paar Gewinne wünschte, um das Begehren der Verlierer für die nächste Ziehung zu steigern, so hoffte er doch, dass die Lottokasse wenigstens von einer Quaterne verschont blieb. Nur wenige hatten während der Verkündung der Zahlen Freudenschreie ausgestoßen, aber Calzabigi konnte die Höhe des Gewinns nicht erraten. Mit Ehrfrucht dachte er an die nächsten Tage, die nach Auszahlung aller Gewinne zeigen würden, ob die Lottokasse den versprochenen Erlös erzielen könnte. Er hoffte, er würde dem König gute Nachrichten überbringen.
Um sich zu beruhigen, sah er wieder zu der Stelle, an der er Marie zuletzt gesehen hatte, doch sie war verschwunden. Auch den kleinen Charles, in dessen Nähe er sie vermutete, konnte er in dem Gewimmel, welches nach dem Ende der Ziehung auf der Bühne entstanden war, nicht mehr entdecken.
Hainchelin umarmte gerade von Tannenberg, den zweiten Schöffen, der mit erhitztem Gesicht über beide Wangen strahlte, als hätte er selbst gerade eine Terne erzielt.
»Welch dunkler Moment«, sagte eine düstere Stimme neben Calzabigi. »Nun steht es fest: Das Glück hat mich endgültig verlassen! Keine der Zahlen stand auf meinem Los. Nicht eine einzige. Als die 13 kam, wusste ich, dass es vorbei ist.« Gotzkowsky stand mit hängenden Schultern neben ihm. Unter traurigen Augen hing seine Gesichtshaut schlaff wie ein Faltenrock.
Calzabigi legte ihm tröstend seine Hand auf den Arm. »Überantwortet Euer Schicksal nicht einer Lotterie«, sagte Calzabigi aufmunternd.
Gotzkowsky lachte bitter. »Das aus Eurem Munde zu hören ist merkwürdig. Ihr tut es doch selbst.« Der bankrotte Kaufmann wandte sich müde ab und stieg langsam die Treppe hinab.
Calzabigis Blick wanderte hinüber zu der Lostrommel, die nun
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