Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
Rundstrick aus 100 Prozent Polyester. Diese Neuheit sollte in Filmform zum zwanzigsten Jahrestag der DDR präsentiert werden – deshalb der Name »Präsent 20«. Gitta Nickel führte Regie. Die Idee war, dass junge Menschen verschiedener Berufszweige die neue Kollektion vorstellen würden, also keine Models, sondern ganz normale Leute von nebenan.
Dass ich nicht nur singen, sondern auch Mode vorführen sollte, wusste ich zu Beginn unserer Reise allerdings nicht. Ich wusste nur, dass wir unterwegs, vor allem in den Hotels, in denen wir übernachteten, unser Land bei den sozialistischen Bruderstaaten musikalisch repräsentieren sollten. Das war alles. Es wartete eine Zeit ohne viel Verantwortung und Verpflichtung auf mich – nur leben und schauen, was die Welt so bietet.
Es war Juni, herrliches Wetter, was konnte es Schöneres geben, als für drei, vier Wochen zu verreisen? Ich bekam eine genehmigte Studienpause, die Semesterferien standen ja schon vor der Tür, packte mein bescheidenes Gepäck plus Gitarre zusammen und fuhr mit meinen Musikerkollegen nach Babelsberg. Dort wurde die ganze Reisegruppe auf dreißig Wartburgs aufgeteilt, die Kolonne fahren und an vorher festgelegten Orten anhalten sollten, damit gefilmt werden konnte. Ein enormer logistischer Aufwand. Und wenn ein Auto schlapp machte, musste die ganze Mannschaft ausharren, bis es repariert war. Insgesamt waren wir sicher gut hundert Personen, zwei Autos beherbergten allein die Filmutensilien. Zusätzlich zur Filmcrew war noch ein russischer Kameramann namens Pavlow dabei, vermutlich wollte Gitta Nickel auf einen landeskundigen Experten zurückgreifen können. Von Babelsberg bis Jerewan und zurück, in vier Wochen 8ooo Kilometer, eine Wahnsinnsstrecke. Durch Polen sollte es in Richtung Ukraine gehen, dann in den Kaukasus, über die Ossetische Heerstraße nach Georgien und weiter bis nach Armenien. Ich weiß noch, dass Kiew uns ganz besonders beeindruckte; in dieser Stadt mit ihren herrlichen Bauten, ihrer Farbenpracht war die Lebensfreude an jeder Ecke spürbar. Wir DDRler waren so empfänglich dafür, hätten nie geglaubt, dass wir auf eine solche Buntheit und Vielfalt stoßen würden. An die wuchtigen Heroendenkmäler erinnere ich mich ebenfalls noch, sie durchzogen die ganze Sowjetrepublik. Besonders in Georgien dann auch die Stalin-Denkmäler – sie stehen da bis heute. Egal was er getan hat, dort wird er geliebt. Schon erstaunlich.
Die Versorgung mit Lebensmitteln war nicht ganz einfach. Ich erinnere mich, dass wir uns immer gedulden mussten, bis es was Essbares gab. Überall wurde gedreht. Wir waren Statisten, und gelegentlich spielten wir auf. Ich hatte meine Gitarre zum Vergnügen und Überbrücken im Auto dabei. Ich spielte und sang, wann mir danach war, sozusagen bis der Arzt kam, damit konnte ich die langen Autofahrten verkürzen. Die Besatzungen der anderen Autos baten sogar darum, dass ich zur Unterhaltung auch mal bei ihnen mitfuhr, abwechselnd, aber das wurde nicht genehmigt – keine Ahnung, warum.
Die Ossetische Heerstraße führt über den Großen Kaukasus, sie verbindet Alagir in Russland mit Kutaissi in Georgien. Als wir in Richtung Kaukasus und Heerstraße unterwegs waren, streiften wir eine anliegende Autobahnstrecke, die noch nicht fertig war. In Richtung Georgien eine günstige Verbindung. Uns fiel auf, dass die Autobahn von Frauen gebaut wurde, allesamt in Kopftüchern, dunklen Einheitskitteln wie eine Strafkolonne und mit schwerem Gerät am Werk.
Unser Auto hielt kurz an, und wir fragten, wo es irgendwo etwas Essbares gab. Da boten uns diese schwer arbeitenden Frauen »Butterbrot« an. Ein deutsches Lehnwort im Russischen. Sie gaben jedem von uns ein dick bestrichenes Butterbrot. Ihre Herzlichkeit war beeindruckend, und wir fragten uns, warum Frauen die harte Arbeit ausführten.
Wo waren die Männer?
Wir stiegen mit unseren Butterbroten zurück in die Autos, denn wir durften die Kolonne nicht verlieren. Die Reise ging weiter zu den Städten am Schwarzen Meer. Gagra, Sotschi, Sochumi. Palmen, Strände und Seeluft, die Hafenorte ließen einen vergessen, wo man war. Mittlerweile, nachdem ich viele Städte im Süden Europas kenne, weiß ich, dass sich manches ähnelt – aber die Schwarzmeergegend ist trotzdem ganz eigen. Wir badeten und genossen das Meer, bevor die Wartburgs weiter Richtung Kaukasus fuhren. Die Fahrt dorthin war großartig. Die Weite der Natur, kaum ein Mensch, die Bäche klar und rein, schon ihr Anblick
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