Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
Seiten der Staatsdiener.
Ich meldete mich noch kurz bei Gerd Kämpfe, der sich um die Fahrt und die Details vor Ort kümmern sollte. Und dann feierten wir die halbe Nacht durch – egal, morgen war ja nur eine Probe. Vier Stunden später fuhr ich im Halbschlaf zu meiner Friseurin Maro, die mir freundlicherweise auch bei dieser Blitzaktion meine »Kreppfrisur« modellierte, eine mühsame Arbeit, aber da sie meine Freundin war, tat sie mir den Gefallen, wenngleich alles sehr schnell gehen musste.
Die Zeit war knapp, nach dem Friseur nach Hause stürzen, Bühnensachen, ein paar Utensilien einpacken und auf nach Dresden – und das neue Album nicht vergessen.
Ich war aufgeregt, ob die Grenzer mich durchlassen würden. Kurze Spannung, Passkontrolle und »Gute Weiterfahrt«. Es hatte geklappt, wie unwirklich! Entspannung und trotzdem aufgeregt. Erschöpft wegen der letzten Nacht schlief ich dann bis Dresden.
Dort ging es durch den großen Hintereingang der Semperoper, der direkt auf die Bühne führt und für die technischen Aufbauten gedacht ist. Übermüdet und ahnungslos stand ich plötzlich schon auf der Bühne. Ich wusste nicht, dass bereits die Generalprobe bei voll besetztem Haus lief. Das Publikum erhob sich aus seinen Sitzen und bedachte mich minutenlang mit stehenden Ovationen. Schlagartig war ich hellwach. Mit dieser herzlichen Begrüßung hatte ich nicht gerechnet, das berührte mich sehr. Die verlorene Tochter war wieder da. Meine Gefühle rasten wie auf der Achterbahn. Das Begrüßen nahm kein Ende, überbordende Herzlichkeit. Aber auch Schatten bemerkte ich – die Schatten derer, denen ich nicht willkommen war. Doch sie verschwanden schnell in all dem Jubel.
Meine Probe fand nach der Generalprobe statt, ich war ja nicht eingeplant gewesen, nichts war abgesprochen. Ich sang zwei Lieder von meiner neuen CD – »Ich will den Sommer« und »Manchmal fällt man tief«. Ich freute mich, diese schöne Ballade singen zu dürfen, trotz des tief gehenden Inhalts hatten die DDR-Bürger keine Berührungsängste damit. In den Westmedien dagegen kam das Lied kein einziges Mal zum Einsatz zu »schwierig«, so was durfte höchstens im Nachtprogramm stattfinden, damit sich die Menschen tagsüber bei hellwachem Verstand nicht überfordert fühlten – sie könnten ja deshalb an einen Baum fahren.
Zwar dachte ich, dass sie die »Schneeflocke« hören wollten – aber dafür war es zu früh, das Lied stand noch auf dem Index, war noch im »Bunker«. Stattdessen trug ich als drittes Lied »Berlin« von Günther Fischer vor. Es bot sich an, denn Günther war selbst auch in der Sendung. Der Song war gefühlsstark, mit einem tief greifenden Text von Gisela Steineckert über die jüngste Geschichte unseres Landes. Er stammte aus jenem Zyklus der sechs Berlin-Lieder, die ich elf Jahre zuvor eingesungen hatte. Die DDR-Kulturträger hatten Musik über ihre Stadt haben wollen, und Günther hatte die Auftragskompositionen angenommen. Und nun sang ich unerwartet dieses Lied am 11. November 1989 bei der Wiederbegegnung mit meiner Heimat, dem ersten Wiedersehen mit der für mich verloren geglaubten Hälfte des Landes. Es passte wie maßgeschneidert:
Auf diesem Teil der Erde
War bittrer Brand, lange Nacht
Dass nie mehr Krieg sein werde
Dazu sind wir aufgewacht
Hier fang ich an
Jedweden Tag
Hier, hier wo ich kann
Laut – laut – laut – laut
und empfindlich wie ein neugebornes Kind
ist Berlin, meine Stadt
In der ich mich zuhause find. 8
Nach der Probe taumelte ich von einem zum anderen, die Stimmung gelöst und unbekümmert, eine Befreiung im wahrsten Sinne des Wortes. Nachts fand ich kaum Schlaf, ich war völlig aufgedreht von den langen Gesprächen mit Kollegen und alten Bekannten. Am nächsten Tag schwebte ich sozusagen zur Aufführung. Gunther Emmerlich sagte mich herzlich an, Applaus brandete auf. Für die Menschen im Publikum war ich in diesem Moment so etwas wie ein Freiheitssymbol, ein Zeichen für die neue Durchlässigkeit der Mauer. Ich war die erste Künstlerin, die nach ihrem Weggang wieder einreisen durfte. Es war wie ein Traum.
Ich war dankbar, dass ich an jenem 11. November in der Semperoper auftreten durfte. Das hatte ich Sharis Absage zu verdanken, ich wünschte ihr von Herzen gute Besserung, wenngleich ich nicht böse war, dass sie an jenem Tag abwesend war. Und danke, Reinhard, dass du in diesem Moment an mich dachtest!
Deutschland war dabei, sich zu verändern. Tiefgreifend, auch für mein
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