Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
»Kartoffel-Block« wird danach auseinandergerupft, damit die Masse sich geschmeidig mit dem weich gekochten, wässrigen Kartoffelbrei verbindet. Dann muss es schnell verrührt werden, damit sich keine Klumpen bilden. Im Schweiße seines Angesichtes rührt man bei der großen Menge wie ein Besessener in einer riesigen Schüssel und lässt nebenbei schon in zwei oder drei Riesentöpfen Wasser mit etwas Salz aufkochen, außerdem brutzeln in einer Pfanne kleine Weißbrotbröckchen in Butter, die drückt man beim Formen in die Klöße hinein. Endlich ab ins Wasser damit. Die Hitze wird heruntergefahren, und die Klöße köcheln zwanzig bis dreißig Minuten. Wenn sie an der Oberfläche schwimmen, sind sie gut. Eine Schweinearbeit, aber lecker.
Wir Mädels bemühten uns, das Weihnachtsgericht auf den Tisch zu bekommen, die arme Mutter machte krankheitshalber schlapp. Während wir Frauen in der Küche standen, gingen Männer und Kinder in die Kirche. Ich glaube, die Kinder drückten sich, aber mein Vater war ganz sicher in der Kirche, das war ja sein Versprechen. Wir »Weiber«, die vier Schwestern, hatten den Kochtopf und fühlten uns wie in alten Zeiten, viel Theater und möglichst den anderen die Arbeit überhelfen. Das alte Sprichwort »Viele Köche verderben den Brei« war allgegenwärtig. Aber, o Wunder, wir brachten die Weihnachtsgans mit den Klößen auf den großen Tisch. Die Frauen sind eben doch die Doofen, egal in welchem System, das haben sich die Männer schön eingerichtet. Wir übten uns in alter Tradition, es war kein Entkommen.
Ich koche ja wirklich gern, doch wenn es geht, bitte so, dass ich dabei noch ein wenig Feiertag habe.
Diese große Runde zu einem Weihnachtsfest fand nur noch 1989 so statt. Heute ist jeder mit seiner Familie beschäftigt, Wölfis gibt es nur in der Erinnerung. In guter Erinnerung.
Neue Zeiten
Umbruchzeiten nähren Hoffnungen und heimliche Träume – aber auch Illusionen. Nie zuvor oder danach habe ich erlebt, wie Menschen, auch aus meiner nächsten Umgebung, plötzlich bereit waren, Risiken einzugehen, berufliche und private Pläne zu schmieden, die ihr bisheriges Leben völlig umkrempeln würden. Die wenigsten dieser Träume wurden Realität, nur ganz selten ließen sich hochfliegende Pläne erfüllen. Der Neubeginn, der den ganzen ehemaligen Ostblock umfasste und bei uns in Deutschland jetzt plötzlich an der Tagesordnung war, war von Anfang an auch eine Gefahr für die hergebrachte politische Ordnung. Denn in den ersten Jahren nach dem Fall der Mauer war Deutschland alles andere als eins, der Ausgang der Entwicklung für beide Teile offen, und eigentlich war zunächst auch völlig unklar, welche politischen Konstellationen sich im Ostteil am Ende durchsetzen würden. Die Menschen in der DDR hofften darauf, dass nicht alles im Nachhinein als schlecht verworfen wurde und einiges, für das sie während der vielen Demonstrationen ihren Kopf riskiert hatten, Bestand haben würde in der neuen Zeit.
Ich hatte ja die fest gefügte Ordnung des Westens, die selbstgewisse, auch selbstgefällige Sicherheit des kapitalistischen Systems ausgiebig erleben dürfen. Ich sah deshalb die Krise, in die meine Mitmenschen von früher geraten würden, voraus. Ein Großteil derer, die vor dem Mauerfall aus der DDR in den Westen gekommen waren, hatte nicht ohne Probleme aus diesem Systemwechsel wieder herausgefunden. Zu etwas Neuem, Drittem, einem wirklich vereinten Deutschland hätten wir wohl nur finden können, wenn auch die Menschen im Westen in den Umbruch mit einbezogen worden wären. Und genau das musste die westliche Politik als Gefahr verstehen und zu verhindern versuchen. Man blieb also starr bei den hergebrachten kapitalistischen Grundsätzen: Wo das Geld steckt, da ist die Macht. Nicht um eine Wiedervereinigung ging es, sondern um die Übernahme des DDR-Gebietes durch die BRD. Von den Regierenden her gesehen war es logisch, aber unsensibel den Ostdeutschen gegenüber. Und kleinlich. Denn im Endeffekt ist die Krise, die Krankheit, dadurch nie überwunden, sondern nur weiter verschleppt worden. Die Folgen spüren wir bis heute.
Meine ehemaligen Landsleute glorifizierten zunächst im »Einigungstaumel« den Westen. Ihr Eingesperrtsein, das Gefühl, als Menschen zweiter Klasse durchs Leben gehen zu müssen, schien vorbei. Die Westmark lockte. Jetzt erst mal frei sein von den Bedrückungen der Diktatur, was nachher kam, konnte warten, man würde irgendwann weitersehen. Auch für die bis
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