Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
blieb. Ich fürchtete gewalttätige Auseinandersetzungen und hatte Angst um meine Familie in der DDR.
Am 9. November saß ich allein vor dem Fernseher, als sich die Nachrichten überschlugen. Ich hörte Günter Schabowskis kryptisches Statement von der Reisefreiheit, die seines Wissens »sofort« beginne, und den Westberliner Bürgermeister Walter Momper, der verkündete: »Heute Abend fällt die Mauer, es ist ein historischer Moment!« Während die Bedeutung dieser Sätze nur langsam in mein Bewusstsein drang, klingelte auch schon das Telefon. Meine Schwester Kerstin rief in den Hörer: »Ich komme gleich mit einer Freundin rüber! Wie finden wir zu euch?« Ich konnte es nicht glauben: »Meinst du, ihr kommt durch? Versucht es in dem Chaos bis Papestraße, wir holen euch ab!«
Ich kam mir vor wie in einem Wachtraum, ich dachte, ich spinne und konnte mir überhaupt nicht vorstellen, Kerstin nach achteinhalb Jahren Besuchsverbot tatsächlich gleich umarmen zu können. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf, Wichtiges, Nebensächliches – ob ihre Kinder wohl schon schliefen, Ines war damals zehn, so alt wie Benjamin, und Lucas sechs…
Wir fuhren los. Die Straßen leer, wie ausgefegt, die Menschen offenbar alle schon an der Mauer, um das unfassbare Ereignis mitzuerleben. Ich erinnere mich an einen langen, dunklen Gang am S-Bahnhof Papestraße, niemand außer uns weit und breit, nur Kerstin und ihre Freundin ganz hinten. Wir sahen uns, gingen durch den Gang aufeinander zu und lagen uns in den Armen. Unwirklich wie im Film. Viel zu überwältigt waren wir, sprachen wenig, kamen erst langsam ins Gespräch, waren noch blockiert durch die Schmerzen der Vergangenheit, die zeitliche Entfernung. Wir hatten uns ja nie besuchen dürfen, kannten unsere Kinder nur von Fotos.
In unserer Wohnung setzte endlich die Entspannung ein. Wir genehmigten uns ein Glas Campari-Orange, mein Lieblingsgetränk, das Kerstin überhaupt nicht mag. So verschieden sind wir. Die beiden erzählten, dass sie ein Taxi genommen hatten und der Fahrer wissen wollte, ob sie denn in Westberlin bleiben würden. Als sie sagten, dass sie wieder zurückfahren, mussten sie nichts bezahlen.
Die neuen Entwicklungen waren uns noch suspekt. Wir waren vorsichtig im Glauben an das, was geschehen würde – vorerst einfach nur glücklich. Und am Rande: Der 9. November war schon mehrmals ein wichtiger Tag, unter anderem als »Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus«. Erstaunlich, dass die Geschichte sich bestimmte Tage aussucht, an denen dann große menschliche Tragödien stattfinden. Und Komödien auch. Ein Schicksalstag!
Während unseres Gesprächs klingelte plötzlich das Telefon, eine Dame stellte sich vor als die Managerin von Reinhard Mey: »Frau Fischer, ich bin mit Reinhard Mey in Dresden zur Vorbereitung der Sendung Showkolade in der Semperoper. Die Tochter von Harry Bellafonte, Shari, konnte leider nicht anreisen, man sucht hier deshalb händeringend eine Künstlerin, die kurzfristig einspringen kann. Könnten Sie morgen nach Dresden kommen?«
In meinem Kopf kreiselte alles in rasendem Tempo. Gerade hatte ich meine neue CD fertiggestellt, die könnte ich präsentieren. Ich hatte mir auch ein neues Bühnenoutfit anfertigen lassen, das könnte ich anziehen. Aber würden die mich über die Grenze lassen? Ich war schließlich unerwünscht. Sollten sich die Zustände so schnell geändert haben? Das mochte ich kaum glauben. Ich sagte trotzdem zu. Wer wagt, gewinnt! Die Managerin versprach, sie werde sich um meine Einreise kümmern und sich gleich wieder melden.
Kerstin, ihre Freundin und László bekamen gar nicht mit, was sich für mich da gerade Bemerkenswertes anbahnte. Ich zweifelte noch, wusste nicht, ob ich das Angebot ernst nehmen sollte; in der kurzen Zeit war die Einreise doch gar nicht durchsetzbar. Aber da rief sie schon wieder an und bestätigte, dass ich kommen sollte, alles würde in die Wege geleitet werden.
Später erfuhr ich, dass in jener Nacht in Dresden an der Semperoper völliges Chaos geherrscht hatte und die Verantwortlichen vor Ort gar nicht wussten, wie sie sich richtig verhalten sollten – konnten sie eine »Gegangene« wie mich überhaupt hereinlassen? Lutz Daum, der Produzent der Veranstaltung, bestätigte kurz nach dem Gespräch mit Reinhard Meys Managerin, sämtliche Konsequenzen auf sich zu nehmen. Man wusste, was das heißen würde: Aufregung unter den Bürgern der DDR, große Freude auf der einen Seite, Ängste auf
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