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Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Titel: Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Fischer , Manfred Maurenbrecher
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ihre mit einer Strickmaschine hergestellten Pullover anbietet, verhandeln will. Ist ihr doch alles so fremd noch in Westberlin. Und sie lernt so schwer deutsch – während die Schwiegertochter dafür täglich besser ungarisch spricht. Dann fühlt sie sich unverstanden, wird misstrauisch – und fängt an, die Dolmetscherin vor den anderen anzuschreien. Die nur ihr zuliebe, aus reiner Freundlichkeit, mitgekommen ist.
    Von heut auf morgen – wie schnell sich die Welt verändert, denkt die junge Frau.
    Vielleicht wäre eine kleine Mahlzeit für Benjamin und sie selbst jetzt gemütlich, fällt ihr ein. »Möchtest du etwas Griesbrei«, fragt sie.
    Benjamin weiß nicht so recht.
    Dann sieht sie die großen Brötchen auf der Anrichte, drei sind vom Frühstück noch übrig.
    Diese aufgeblasenen Westbrötchen. Prächtig und weich. Wenn man mit dem Messer da reinsticht, bröckelt erst die Schale, dann entweicht Luft, sie fallen in sich zusammen, dann muss man von der Krume einiges beiseite schaffen, eh man sie mit Butter bestreichen und dann endlich reinbeißen kann.
    Wenn das nicht alles hochsymbolisch ist.
    Wie viel kleiner, bescheidener, dichter dagegen die Brötchen in Ostberlin. Und wieviel leckerer die aus der Kinderzeit.
    Benjamin, der – statt Griesbrei – jetzt mit der weichen Krume manscht, kennt die anderen Backwerke gar nicht. Für ihn sind die aufgeblasenen Teile hier Heimat. Und wer weiß – falls ihm die einmal fehlen sollte irgendwo in der Fremde, in die es ihn vielleicht verschlägt –, ob er nicht Sehnsucht bekommt, wenn ihm dieser Geruch in die Nase steigt? Der seine Mutter ganz kaltlässt, denn für sie riecht ein gut gelungenes Brötchen anders.
    Es gibt Menschen, die fühlen sich überall wie zu Haus, denkt sie jetzt. László gehört dazu, Benjamins Vater. Ohne ihn hätte sie wahrscheinlich schon Dresden gar nicht verlassen – oder viel später erst, denn sie hing an allem: der Uni, den Kommilitonen, Freundinnen, an der Vertrautheit der Familie wie der Selbstverständlichkeit.
    Für László dagegen ist Wechsel das Selbstverständliche, der Weltenbummler findet sich auch im Westen nach kurzer Zeit schon zurecht. Jedenfalls tut er so, wenn er spätabends von seinen Erkundungsfahrten in neue Geschäftsregionen zurückkehrt. Manchmal merkt sie ihm seine Müdigkeit an und dass er ein bisschen spielt. Aber ohne Herausforderung, ohne dies Pokern um den Erfolg wäre er vielleicht klein, jemand zum Anschreien, würde eingehen.
    Sie erinnert sich gut, wie die Idee zur Flucht aufkam, zum großen Wechsel, und wie sie vom Sohn auf die Mutter übergriff, die in Trennung lebte und sofort sagte: Ja. Ich komme mit. Westberlin! Neubeginn! Auf einer Woge der Begeisterung machten sie ihre Pläne und zögerten nicht, sie in die Tat umzusetzen. Woanders wird es besser sein!
    Wie der Lebensglaube der Zigeuner, dachte sie leise und spürte, wie anders ihr selbst zumute war.
    Jetzt fühlt sie sich manchmal sehr müde. Auf ihrer letzten LP »Goldene Brücken« handelt das Titelstück davon, wie die Menschen abends, nach getaner Tat über der Stadt kleine Gänge aufspannen, über den Straßenschluchten dahinwandeln, Brücken schlagen, vor fremden Fenstern verweilen, in fremde Zimmer mit fremden Wünschen hineinschauen, sich verschwistern, freundlich und liebeshungrig. Eine Vision ihres vergangenen Lebens, noch kein halbes Jahr alt. Wo käme sie hin, wenn der gleiche Traum hier, nur eine Halbstadt weiter, um sie herum heute wahr würde? Wo wollte sie denn hineinschauen, in welche Wohnung und welche Wünsche?
    Wenn man sich fremd fühlt, will man sich nicht verschwistern, denkt sie. Benjamin spielt mit den Legoklötzchen, die er sich um den immer noch nicht abgedeckten Tisch herum aufgeschüttet hat. Ihm wird das alles hier mal sehr vertraut sein. Vielleicht wird er solch ein Draufgänger sein wie sein Vater.
    Oder ein nüchterner Träumer wie seine Mutter. Die das Zu-Haus-Sein braucht, um in die Fremde zu wollen.
    Sie geht zum Fenster. Draußen parkt eine schwarze Limousine, zwei Männer in schwarzen Lederjacken sitzen drin. Man kann es durch die funkelnde Sonne von hier oben gut erkennen. Ist sie hier sicher vor solchen Männern? Kommt ihr vor, als würden die Typen genau zu ihr hochschauen. Zufall?
    Oder ein Gruß aus der Heimat?
    Sie ist in vielen Fremden gewesen. Manche hat sie genießen können, andere haben ihr Angst gemacht – aber in keiner hat sie bisher bleiben müssen. Nicht in Ungarn, Polen, Bulgarien –

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