Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
Schule oder bei Freunden, denn da gab es Musik, und man konnte Geschichten erzählen und sich unterhalten. Die Kommunikation war viel unproblematischer. Bei den Eltern dagegen war es immer leise. Deshalb kaufte sie sich von ihrem ersten selbstverdienten Geld als Bürohilfe eine Mundharmonika, um selbst musizieren zu können.
Sie machte als junges Mädchen einmal mit ihrer Freundin eine Radtour, als eine Kolonne Lkws an ihnen vorbeifuhr. Auf den Ladeflächen saßen lauter junge Männer, die zum Arbeitsdienst abkommandiert waren. Die Männer warfen kleine Zettelchen mit ihren Adressen auf die Straße, um die Aufmerksamkeit der Mädchen zu gewinnen. Meine Mutter klaubte einen der Zettel vom Boden und begann einen Briefwechsel mit dem Unbekannten, den sie später in Tübingen persönlich kennenlernte. Der junge Mann gefiel ihr, er war selbstbewusst und gut aussehend und half, wo er konnte. So auch bei Behördengängen, was ihr besonders imponierte, da ihr die strammen Nazis in Uniform nicht geheuer waren. Deren menschenverachtende Haltung, gerade auch gegenüber ihren behinderten Eltern, ängstigte sie.
Die Behördengänge waren nötig, da zu dieser Zeit bei meiner Mutter die Entscheidung anstand, wo sie ihren Arbeitsdienst ableisten sollte. Die kleinen schwäbischen Bauernhöfe sagten ihr nicht zu, sie konnte der Vorstellung, dass dort Mensch und Tier unter einem Dach lebten, nicht viel abgewinnen. Der Stall war unten, oben wohnten die Leute. Durch die warme Stallluft konnte man zwar im Winter an der Heizung sparen, aber sie fand das eher gewöhnungsbedürftig.
Meine Mutter verliebte sich in den Thüringer und entschloss sich, ihre Landjahre in dessen Heimat abzuleisten. Im Sommer 1940 heirateten die beiden in Wölfis ohne die Verwandten meiner Mutter; vielleicht wären die Reisekosten zu hoch gewesen. Die Trauung war kirchlich, mein Vater trug eine Uniform, meine Mutter ein weißes Hochzeitskleid. Auf dem Foto sehen beide etwas angegriffen aus für ihr Alter, es war ja schon Krieg.
Mein Vater musste nach der Hochzeit gleich wieder seinen Dienst als Soldat antreten. Mit dem Beginn des Unternehmens Barbarossa 1941 marschierte er gen Osten. Insgesamt war er drei Jahre in Russland, wo er 1942 lebensbedrohlich an Fleckfieber und Typhus erkrankte. Eine ältere russische Krankenschwester kümmerte sich liebevoll um ihn, nur dank ihrer Fürsorge überstand er die Krankheit, an der viele starben. Er hat später immer wieder betont, die russischen Schwestern hätten sich besser und herzlicher um die kranken Soldaten gekümmert als die deutschen, die sich lieber mit den Generälen amüsierten und Sekt tranken. So die Meinung meines Vaters
Die endgültige Ablehnung des Krieges fand für ihn in Weißrussland statt. Die Menschen dort hatten sich auf die Deutschen gefreut, weil sie keinen Stalinismus wollten. Aber Hitler fiel ihnen in den Rücken und griff an. Da wusste mein Vater, dass dieser Krieg ein Verrat, eine Lüge war, da geschah bei ihm ein Wandel. Der Rückzug seiner Einheit verlief in Etappen, die Rote Armee drängte die Deutschen immer weiter zurück nach Westen. Kurz vor Kriegsende geriet er in britische Gefangenschaft. Zum Glück blieb ihm eine lange Gefangenschaft erspart, da er nur ein Wehrmachtssoldat war und nicht als ideologisch vereinnahmt galt. Nach vierzehn Tagen im Internierungslager durfte er zu seiner jungen Frau Charlotte nach Hause. Meine Mutter, aus ihrer sensiblen städtischen Tübinger Umgebung in eine fremde, bäuerlich robuste Welt geraten, hatte sich inzwischen auf dem Land in Thüringen eingelebt, so gut es ging. Im Großen und Ganzen ergab sie sich ihrem Schicksal und ihrer Rolle als Frau und Mutter, wie es in dieser Zeit gefordert wurde. Das brachte später, so empfand ich es, als die Ehe sie nicht mehr glücklich machte, viel Unzufriedenheit, das Verlangen nach den unerfüllten Lebensträumen brach durch. Ganz bescheidene Träume waren das, ein bisschen mehr Selbstbestimmung, weniger Arbeit, ein wenig mehr Freude, etwas mehr Geld für eigene Wünsche. Zuneigung, Aufmerksamkeit ihres Mannes, etwas mehr Liebe. Solche Sehnsüchte überforderten meinen Vater, er hatte selbst genug unerfüllte Wünsche. Er schaute auch nach anderen Frauen, vielleicht schaute er nicht nur? Allerdings war das gerade auf dem Land schwieriger, weil leichter zu entdecken. Es gab damals keine Toleranz. Ich kenne es anders.
Ich hatte manchmal Angst vor meinem Vater. Ich wünschte mir mehr Nähe und väterliche Wärme,
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