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Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Titel: Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Fischer , Manfred Maurenbrecher
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Ländern, die sie liebt. Nicht in Russland, wo es brutaler zuging, wo kurzhaarige dauergewellte Kontroll-Frauen in den Hotels saßen, Tee zubereiteten, aber eigentlich darüber wachten, wer wann mit wem ankam und wegging. Nicht in Kursk, wo die größte Panzerschlacht in der Geschichte der Kriegsführung stattfand und die deutsche Wehrmacht dreitausend Einwohner erschoss – und wo nach ihrem Konzert ein altes Mütterchen plötzlich vor ihr stand, ihr den Weg vertrat und sagte: »Du bist nur das Kind. Dir verzeihe ich…«
    KGB-Beamte huschten wie Schatten um sie herum.
    Ihr wurde da plötzlich sehr bewusst, dass sie eine politische Botschafterin war, ob sie es wollte oder nicht. Dass die Last der deutschen Geschichte immer mit im Gepäck war.
    Welche Rechnungen haben die eingewanderten Türken da unten zu begleichen, die im Straßencafé hinter der schwarzen Limousine hocken, und welche machen sie auf? Aus so vielen Ländern, so anderen Sitten kommen wir hier zusammen und müssen miteinander leben.
    »Peng«, macht Benjamin unterm Tisch – »Peng peng« antwortet er sich selbst.
    Vor ein paar Tagen ist sie mit dem Dichter Jörg Fauser durch Kreuzberger Kneipen gezogen. Sie traf ihn, weil ihr Worte von ihm gefallen hatten, er zeigte ihr ein paar Bars und die Leute darin. Hörte zu. Am nächsten Morgen lag dieser Text in ihrem Briefkasten:
    Fremde.
    Da ist das Zimmer, der Tisch und das Bett,
    da ist die Rose im Wasserglas.
    Es gibt zwei Stühle und den Spiegel,
    vor dem ich lang nicht mehr saß.
    Da ist das Foto aus der Zeitung.
    Er lachte, als ihn die Kugel traf.
    Verratene Träume, kalte Zeiten.
    Frau in der Fremde, fremd noch im Schlaf.
    Die Farben des Feuers sind rot,
    und die Farben der Sehnsucht sind blau.
    Schwarz sind die Farben des Abschieds,
    doch die Farben der Fremde sind grau.
    Da sind die Straßen der großen Stadt,
    da sind die alten Stuckfassaden
    an Häusern voller fremder Leute,
    die hat der Hunger eingeladen.
    Der Hunger, den sie nie verlieren,
    auch wenn sie satt sind von den Resten,
    die ihnen hier gegeben werden,
    bevor die Sonne sinkt im Westen.
    Die Farben des Feuers sind rot,
    und die Farben der Sehnsucht sind blau.
    Schwarz sind die Farben des Abschieds,
    doch die Farben der Fremde sind grau.
    Da ist das Wasser, der stille See,
    da ist der Rauch der großen Fabrik.
    Da sind die Vögel überm Wasser,
    und Vögel kommen manchmal zurück.
    Da sind die Kinder, die schon wissen,
    da drüben blinken die Waffen im Licht.
    Ich weiß schon, euch kann ich erzählen,
    die Fremde hat ein vertrautes Gesicht.
    Die Farben des Feuers sind rot,
    und die Farben der Sehnsucht sind blau.
    Schwarz sind die Farben des Abschieds,
    doch die Farben der Fremde sind grau.
    »Die Farben der Fremde sind grau.« Vielleicht wird sie irgendwann die Kraft haben, das zu singen. So sieht’s aus in ihr. Das zu zeigen, wird sie sich hier noch erkämpfen müssen, das weiß sie.
    Sogar ihre eigene Kindheit ist jetzt ein Land hinterm Berg – eine vertraute, verlorene Fremde. » Die Farben der Sehnsucht sind blau. « 3
    3 »Fremde«, Text von Jörg Fauser, Musik von Veronika Fischer und Gustl Lütjens. Aus: Jörg Fauser, Trotzki, Goethe und das Glück. Gesammelte Gedichte und Songtexte, Alexander Verlag, Berlin 2005. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Alexander Verlags

Familie Fischer, 1953 oder 1954. Links Mutter Charlotte, hinten Schwester Anita, vorne links Sabine und daneben Veronika, rechts Vater Oskar

Die Welt der Kindheit
    Es war Aufregung im Hause Fischer. Mein Vater schickte meine Schwester Anita in unseren großen Garten, sie sollte Ausschau halten nach dem Klapperstorch. Eigentlich wollte er sie nur loswerden, denn meine Mutter lag mit mir in den Wehen. Er wollte sich lange Erklärungen sparen. Meine Großmutter war am Nachmittag, als es so langsam losging, mit ihrem giftgrünen Fahrrad losgeradelt, um die Hebamme zu holen. Damals gab es noch Hausgeburten, das nächste Krankenhaus war weit. Irgendwann zwischen siebzehn und achtzehn Uhr erblickte ich an jenem 28. Juli des Jahres 1951 das Licht der Welt. Es heißt, es sei ein strahlend schöner Tag gewesen bei uns auf der Hinterziel in Wölfis, einem kleinen Ort in Thüringen bei Gotha. Es läuteten wohl die Kirchenglocken, denn es war später Samstagnachmittag, da läuten sie zu jeder vollen Stunde.
    Ich war die dritte Tochter in der Familie. Mein Vater war enttäuscht, dass es wieder ein Mädchen war und nicht der lang ersehnte Sohn. Zum dritten Mal hatte er

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