Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
mit seinen Freunden gewettet – und auch diesmal die Wette verloren. Sie nahmen ihn schon auf den Arm, weil er »nur« Mädchen zustande brachte. Oft gab man damals allerdings auch der Frau die Schuld, wenn der Wunscherbe nicht geboren wurde. Insgeheim muss mein Vater wohl mit der neuen Tochter gerechnet haben, denn zum Zeitpunkt meiner Geburt war die Frage meines Namens fast geklärt. Er hätte gerne eine Susanna gehabt, meine Mutter war für Veronika. Müßig zu erwähnen, wer sich durchsetzte, Susanna wurde schließlich mein zweiter Vorname.
Ich finde Veronika eigentlich recht schön, nur ein bisschen lang vielleicht. Während meines Studiums in Dresden wurde daraus dann die Kurzform »Vroni«. Meine Freunde nannten mich so, und auch bei vielen Fans bin ich bis heute die »Vroni«. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das noch steht. Die Familie jedenfalls bleibt bis heute bei Veronika. Das ist mir lieb und vertraut.
In unserem Haus wohnten damals mit mir sechs Personen – mein Vater Oskar, meine Mutter Charlotte, die Großmutter Frieda, meine älteste Schwester Anita und die ein Jahr ältere Schwester Sabine. Als Kerstin, das Nesthäkchen, neun Jahre später auf die Welt kam und mein Vater seine nächste Wette verloren hatte, waren wir komplett – sechs »Frauen« und ein Mann unter einem Dach, das konnte anstrengend sein…
Mein Vater – ein Mann von mittelgroßer, schlanker Gestalt, dunkelhaarig, resolut, mit geradliniger freundlicher Art. Er hatte Möbeltischler gelernt, später noch den Meister gemacht und eine eigene Werkstatt mit einigen Angestellten hochgezogen. Seine Möbel hielten, was sie versprachen. Wortkarg war er nicht. Er konnte gut reden, hatte einen ausdrucksstarken Bariton und eine sichere, bestimmte Sprechstimme. Im Volkschor sang er als strahlender Tenor. Im Ort war er eine angesehene Persönlichkeit, bekannt für seinen Witz und seine Lebensart. In der Familie dagegen war er eher streng, mitunter schnell genervt, manchmal sogar cholerisch. Anita, die Erstgeborene, blieb davon meistens verschont, sie war sein Liebling. Wir Sandwich-Kinder Sabine und ich bekamen das eher ab. Ich vermisste Wärme bei ihm, kann mich an keine Umarmung erinnern, körperliche Zuneigung schien ihm nicht angenehm. Es gab auch schon mal eine hinter die Ohren. Aber er erzog verantwortungsvoll, war ein aufrechter Mann, fleißig, ein sehr guter Handwerker.
Vater Oskar Fischer, 1938
Seine Mutter, Oma Frieda, war eine wichtige Bezugsperson für ihn; mit ihr beriet er sich oft über die Konflikte des täglichen Lebens. Das führte zu Spannungen zwischen unseren Eltern, deren Ehe mit einer Jugendliebe begonnen hatte, die dann im Alltag verloren ging. Durchhalten bis zum Schluss, eine klassische Ehe. Ich glaube aber, am Ende ihres Lebens waren sie froh, sich zu haben.
Meine Mutter wurde 1921 in Crailsheim bei Tübingen geboren. Ihre Eltern waren beide taub, sie hatten sich im Gehörlosenheim kennen und lieben gelernt. Ihr Vater stammte aus einer großbürgerlichen Familie, und es ging bei uns das Gerücht, er wäre mit der Schokoladenfabrik Stollwerck verwandt, was sich aber nie bestätigen ließ. Mein tauber Großvater verdiente als gelernter Holzbildhauer seinen Lebensunterhalt mit dem Verzieren von Möbeln, später wurde er arbeitslos, weil glatte Oberflächen modern wurden. Meine taube Großmutter war Stickerin, die Aussteuerwäsche mit Monogrammen versah und bei Bedarf kunstvoll Löcher unsichtbar machen konnte. Als ihr Mann arbeitslos wurde, ernährte sie die ganze Familie mit dieser Tätigkeit. Die Familie hatte kaum genug zum Leben, auf alten Fotos sehen meine Mutter und ihr jüngerer Bruder Rudi sehr dünn aus. Da die Eltern sich mit Gebärdensprache verständigten, lernte meine Mutter erst mit drei Jahren im Kindergarten Sprechen und brachte es dann ihrem geliebten Bruder bei. Von meinem Großvater, den ich nur von Fotos kenne, erzählte mir meine Mutter einmal folgende Geschichte: Als sie und ihr Bruder, statt sich an den Mittagstisch zu setzen, weiter mit einem Ball spielten, bis dieser auf den Tisch flog und einiges umfiel, packte mein Großvater das Spielgerät, nahm ein Messer und ließ den Ball mit lauten Knall platzen. Er konnte seinen Kindern ja keine Standpauke halten, sondern musste sich auf andere Weise »Gehör« verschaffen.
Mutter Charlotte Fischer, geb. Stoll, 1938
Da meine Mutter hörend war, nahm sie ihre Umgebung anders wahr als ihre Eltern. Richtig bewusst wurde ihr das erst später in der
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