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Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Titel: Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Fischer , Manfred Maurenbrecher
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gewendet und trocken genug war, um es einzufahren, ging ich mit Oma Frieda zur Wiese, um zusammenzurechen. Bis mein Vater dann mit dem Wagen und der davorgespannten Kuh kam, hatte ich Zeit, mich auf meinen Lieblingsplatz zu legen und zu träumen. Das war eine kleine Erhöhung am Rand der Wiese mit fünf Kiefern. Ein unberührter, friedlicher Ort wie ein Miniwald mit wild wachsendem Gras. Ich legte mich ins Grün, hörte die Bäume über mir rauschen, sah das Zittergras in der Sonne flimmern, die Schmetterlinge, die Bienen, die wilden Blumen. Die Luft duftete nach Spätsommer und Heu.
    Mein Vater kam, wir luden auf, und dann lag ich oben auf dem Wagen und sah in den blauen Himmel. Die Wolken zogen vorbei. Manchmal waren auch meine Schwestern dabei, dann sangen wir auf dem Heuwagen. Es war eine friedliche, innere Ruhe, die ich da erfahren durfte, ich war geborgen in dem flimmernden Rauschen und der Stille.
    Aber wer auf dem Land groß geworden ist, weiß, dass es auch andere Momente gibt… Ich muss etwa sechs Jahre alt gewesen sein, als ich eines Nachmittags auf der Suche nach meiner Oma den Schuppen im Garten betrat. Zuerst sah ich ein blutverschmiertes Beil im Hackklotz stecken, daneben lag ein Hühnerkopf. Im nächsten Moment stürzte das kopflose Huhn auf mich zu. Ich erschrak furchtbar, knallte die Tür zu und lief schreiend über den Hof. Wo war meine Oma? Sie hörte mich schon von Weitem. Und erklärte mir dann, dass gerade geköpfte Hühner so etwas machen würden, weil die Reflexe des Körpers noch kurzzeitig funktionieren, bevor sie umfallen.

Sabine und Veronika Fischer mit einem Kätzchen, 1963 oder 1964

Mit meiner Mutter sprachen wir abends oft über Tagesereignisse. So habe ich den Hühnertod vielleicht leichter verarbeiten können. Ich schlief mit meinen zwei Schwestern in einem Zimmer, das beruhigte auch. Unser Schlafzimmer war nicht sehr groß, die Decke relativ niedrig. Es gab drei Betten, eins rechts, eins links und eins längs an der Wand unter dem Fenster. Auf der rechten Seite des Raumes befand sich ein Ofendurchzug mit Schlotvortritt, dahinter ein Schränkchen. Der Vater hatte jedem von uns drei Mädels eines getischlert. Damals konnte zwar nicht jedes Kind ein eigenes Zimmer haben, aber ein eigenes kleines Schränkchen für eigene Habseligkeiten. Meines war im Treppenflur aufgestellt. Ich habe es heute noch.
    Für mich gehörte das Schlachten von Tieren damals auf dem Hof genauso dazu wie Kartoffeln ernten, Weizen einfahren oder Heu rechen. Heute allerdings könnte ich kein Tier töten, es sei denn, der Hungertod müsste verhindert werden. Von meiner Großmutter habe ich gelernt, dass auch ein Tier, das eines Tages geschlachtet wird, ein Recht auf Würde und ein schönes Leben hat. Obwohl sie, ganz Bäuerin, entsprechend robust mit Tieren umging – sie wurden nicht verpimpelt und gehörten in die Natur, Katzen flogen, zack!, raus, nachdem sie gefressen hatten –, ging sie respektvoll mit ihnen um. Unser Schwein behandelte sie seinen Bedürfnissen entsprechend, fast täglich ließ sie das Tier ins Freie. Es lief dann freudig grunzend hinter ihr her, vom Stall durch die Tür zur Werkstatt, durch die man auf die Wiese gelangte. Das Schwein durfte Grünes fressen, herumwühlen und sich wie ein Tier fühlen.
    Neben meiner Mutter war Oma Frieda diejenige, die einfach immer für uns da war. Einen Frauenarzt kannte sie nicht und Ärzte besuchte sie kaum, das Geld wollte sie sparen. Als sie im Februar 1986 starb – sie war mit vierundneunzig friedlich in ihrem Bett eingeschlafen – durfte ich nicht zu ihrer Beerdigung kommen, man ließ mich nicht aus Westberlin einreisen. Seit meinem Weggang in den Westen im April 1981 hatte ich sie nicht mehr gesehen. Eine der vielen unmenschlichen Geschichten in unserem damals geteilten Land.
    Großvater Karl, der Vater meines Vaters, hatte während des Ersten Weltkriegs als gelernter Schlosser auf dem Truppenübungsplatz in Ohrdruf gearbeitet. 1917 heiratete er das Dienstmädchen Frieda, Tochter eines Porzellandrehers. Da mein Vater im selben Jahr geboren wurde, war es offenbar eine Pflichtheirat. Sie kauften das Haus im zweitausend-Seelen-Dorf Wölfis, in dem ich später groß wurde, und zogen dorthin. Meine Oma war also nicht von Beginn an Bäuerin, sie erwarb sich das mit dem Grundstück und dem dazugekauften Land. Über meinen Großvater wurde in der Familie wenig gesprochen, es heißt, er habe später für die Nazis gearbeitet. Er war fünfzig, als der

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