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Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Titel: Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Fischer , Manfred Maurenbrecher
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auch mal eine Umarmung, ich empfand oft, dass ihm Kinder lästig waren. Allerdings konnte man mit einer Leistung seine Aufmerksamkeit gewinnen. Grundsätzlich war er lieber in seiner Werkstatt als im Frauentrubel des Wohnhauses. Meine Mutter fing das auf. Sie liebte Kinder über alles. Möglicherweise half ihr das auch aus ihrer Einsamkeit als Städterin und Exotin im fremden Ort. So schnell werden »Leute von außerhalb« nicht eingelassen in eine Dorfgemeinde. Hier und da gelang das natürlich, aber es hielt sich in Grenzen.
    Meine Mutter war von schlanker Gestalt, etwas größer als mein Vater, jedenfalls wirkt sie so in meiner Erinnerung. Sie hatte lockiges rotblondes, eher kurz gehaltenes Haar, Sommersprossen, eine blasse, zarte Haut: ein nordischer Typ. Schöne Hände und immer ein flotter Gang. Als Städterin sprach sie hochdeutsch, nur manchmal schwäbelte sie aus Spaß: »Jockele gang du voraa, du hascht die gröschtn Stiefel aa.« Sie war eher schüchtern und immer ein bisschen aufgeregt, wenn Besuch kam; es konnte vorkommen, dass sie erst mal vorsichtig durch die Gardine lugte, um zu sehen, wer da vor der Tür stand. Gleichzeitig liebte sie ein offenes Haus und war eine großzügige Gastgeberin, die gab, was sie hatte.
    In meiner Erinnerung ist meine Mutter immer in Bewegung, ständig gab es etwas zu tun. Jedes Wochenende wurde gebacken. Ich liebte besonders die Obstkuchen mit Hefeteig und einer Schicht aus saurer Sahne obendrauf. Bis Ende der Sechziger wurden noch große Runden gebacken, die wir dann wie afrikanische Wasserträgerinnen zum Bäcker drei Straßen weiter bringen mussten, weil sie nicht in den häuslichen Ofen passten. Später backte meine Mutter kleinere zu Hause. Wenn sie Sandkuchen machte, durfte ich immer die Schüssel ausschlecken.

Links Sabine, rechts Veronika Fischer im Kindergarten, 1954

Da wir anfangs die Einzigen waren, die auf der Hinterziel einen Fernseher hatten, guckten wir samstagnachmittags zusammen mit Freundinnen und Nachbarskindern Meister Nadelöhr , eine beliebte Kindersendung. Erst Jahre später gestand meine Mutter mir, dass ich sie mit meinem Wunsch nach einem frischen Stück Kuchen zum Film regelmäßig in Schwierigkeiten gebracht hatte. Selbstverständlich bekamen alle Kinder ein Stück, aber dann war für Sonntag nicht mehr genug da. Da auf dem Land jedoch Backen Tradition hat und ein Wochenende ohne selbst gebackenen Kuchen kein Wochenende ist, machte sie lieber mehr Kuchen. So war meine Mutter.
    Neben dem ganzen Haushalt kümmerte sie sich auch um den Betrieb und die Buchhaltung meines Vaters, sie war praktisch seine Sekretärin und arbeitete ihm selbst in der Werkstatt zu. Ich sehe mich noch als Dreijährige neben ihr auf der Hobelbank sitzen, damit sie mich im Auge hatte. Ich durfte mit einem kleinen Hammer fleißig Nägel in runde Klötzchen hämmern. Ich kann mich an keine größeren Verletzungen erinnern und schlage bis heute einen Nagel ganz gut in die Wand.
    Ich frage mich manchmal, wie meine Mutter das alles schaffte. Ob sie glücklich war? Manchmal sagte sie mit einem bitteren Unterton: »Die Thüringer kennen nur das Arbeiten.« Sie vermisste etwas Muße, mal in der Stadt flanieren mit ihrem Mann oder einer Freundin, ins Kino oder Café gehen, plaudern über Gott und die Welt. Einmal ohne Kinderstress sein. Tatsächlich musste sie sich aber in vielem unterordnen. Eine zeitgemäße Familienversklavung, die jedoch für Kinder Vorteile hat, glaube ich.
    Wir gehörten zu den Ersten, die in Wölfis ein Auto besaßen, einen schwarzen Opel Olympia. Sonntags bemühte sich mein Vater, meiner Mutter entgegenzukommen, wenn es möglich war. Da machten wir Ausflüge nach Oberhof, zum Kyffhäuser und auf die Wartburg, wir Kinder durften den Weg auf Eseln hochreiten. Ich liebe die Landschaft Thüringens noch heute, die vielen Anhöhen und Täler, das weitläufige Terrain, die Wälder und die Beerensträucher am Wegesrand, ganze Hecken aus Brombeeren und Himbeeren. Einmal unternahmen wir eine Fahrt nach Buchenwald. Das war allerdings harter Tobak für eine Zehnjährige. Mich ängstigte der Film über die Ermordung der Juden, den Grund für diese Gräueltaten der Deutschen begriff ich nicht. Mein Opa war in diesem Lager gewesen – warum, das erfuhr ich erst später.
    In der Schule lernte ich, dass »der Kapitalist« für all das verantwortlich gewesen war, der Sozialist dagegen der bessere Mensch. Die Nazis waren in der Bundesrepublik, Krupp und Flick waren die

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