Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
Zweite Weltkrieg begann, und konnte seinen Kriegsdienst zu Hause ableisten. Zunächst mit der Überwachung russischer Zwangsarbeiter, später müssen es KZ-Häftlinge gewesen sein. Soviel ich weiß, wurden diese Häftlinge gezwungen, im Jonastal bei Arnstadt zu arbeiten. Was Hitler da baute, blieb lange im Dunkeln. Nach dem Hörensagen der Anwohner entweder ein Führerhauptquartier oder die Atombombe.
Nach dem Krieg wurde mein Großvater, damals fünfundfünzig, zusammen mit neun weiteren Wölfisern von den Russen abgeholt und nach Buchenwald in das ehemalige KZ gebracht, wo er drei Jahre lang inhaftiert war. Danach war er ein kranker Mann, konnte nicht mehr richtig laufen, nur noch breitbeinig mit Stützen, das weiß ich noch. Den Frauen guckte er trotzdem weiter hinterher; er war wohl ein »Weiberheld« und konkurrierte darin ganz gern mit seinem Sohn. Er und mein Vater kamen nicht mehr gut miteinander aus. Es gab dauernd Streit, wobei die unterschiedlichen politischen Auffassungen sicher eine Rolle spielten. Die Situation spitzte sich zu, als mein Großvater sich in eine Flüchtlingsfrau aus Schlesien verliebte, die bei uns einquartiert war. Dann die Scheidung, der Großvater zog aus, heiratete die Schlesierin und bezog mit ihr eine kleine Wohnung am anderen Ende von Wölfis.
Meine Großmutter war sehr verletzt und mied eisern jeden Kontakt mit ihm. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, besuchte ich ihn einmal, ich glaube, mein Vater hatte mich darum gebeten. Der Großvater wünschte sich Kontakt zu seinen Enkeln und freute sich, als ich kam. Seine Wohnung war bescheiden eingerichtet und wirkte dunkel. Seine Frau stand gerade am Herd und kochte. Sie war um einiges jünger und sehr verschlossen, nach einer kurzen Begrüßung wandte sie sich sofort wieder ab und hielt sich im Hintergrund. Das habe ich in Erinnerung behalten – schwierig, als Kind die Zusammenhänge zu verstehen, wenn man nur Bruchteile kennt. Wir redeten kurz, dann trottete ich wieder nach Hause. Ich hatte keine Verbindung zu ihm, er war und blieb mir fremd. Ich glaube aber, dass er bedauerte, so wenig Kontakt zu uns zu haben.
Mein Verhältnis zu meinen Schwestern war in Kindertagen eigentlich sehr gut, doch wir waren alle eigensinnig, das ist bis heute so. Und natürlich stritten wir uns auch. Mit Sabine, die ja nur ein Jahr älter ist, bin ich quasi groß geworden. Wir spielten oft zusammen auf dem Hof und auf der Straße vor dem Haus. Das große Scheunentor war hervorragend geeignet für Ballspiele. Man konnte gut köpfen. Oder mit Kreide wurden Kästchen auf der Hinterziel gemalt und Hüpfspiele gemacht. Mit Sabine gab es manchmal Streit. Sie war jähzornig, und ich machte mich lustig darüber, was ihr natürlich nicht gefiel. Das gehörte zu den ersten Machtkämpfen und schulte fürs Leben. Anita, Sabine und ich wuchsen miteinander auf, Kerstin dagegen, die Jüngste, eher wie ein Einzelkind. Für sie war es schade, sie hatte es nicht leicht mit den großen, alles besser wissenden Schwestern. Als sie in die Schule kam, waren wir anderen längst aus dem Haus, neun Jahre Altersunterschied liegen zwischen ihr und mir. Besonders Kerstin und Sabine hatten ein gespanntes Verhältnis, sehr unterschiedliche Lebensauffassungen. In der Pubertät flippte Kerstin ziemlich aus, und meine Eltern waren überfordert. Sie war groß geworden, meine neun Jahre jüngere Schwester überragte uns alle mit ihren 1,80 Metern als Frau – und sang gern, kurzzeitig auch in einer Band. Es blieb bei einem kurzen Abstecher. Sie liebte es, auffällig auszusehen, trug ihr rotes lockiges Haar offen und mit Vorliebe meine abgelegten Klamotten, es konnte auch Bühnenkleidung sein. Damit ging es dann in die Disco nach Crawinkel oder Ohrdruf, vier Kilometer zu Fuß, nachts zurück. Die Zeiten, auf deren Einhaltung meine Eltern pochten, überzog sie regelmäßig. Solche Kämpfe waren ihnen mit uns Größeren erspart geblieben, wir waren vielleicht einfach braver gewesen – oder schlicht früher von zu Hause ausgezogen. Aber auch Kerstin machte nach dieser Sturm-und-Drang-Phase ihren Weg.
In den frühen Sechzigerjahren florierte das Jungunternehmen meines Vaters, er gehörte zu den erfolgreichen Handwerkern des Ortes. In meiner Erinnerung eine gute Zeit für die Familie. Möbel wurden gebraucht, vor allem Schränke, die mein Vater für die Firma John in Ohrdruf baute. Trotzdem wurde gespart, wo es nur ging. Meine Mutter nähte die Kleidung für uns, gebadet wurde einmal in der
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