Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
Menschen und einer Diktatur, egal aus welcher politischen Richtung.
Ein einschneidendes Erlebnis in meiner Kindheit war der 13. August 1961. Der »antifaschistische Schutzwall«, die Mauer, wurde errichtet. Noch heute habe ich das Bild vor Augen, wie meine Mutter aufgeregt durch das Haus rannte, abwechselnd laut redend und weinend. Durfte sie die Menschen, die sie liebte und die nun plötzlich auf der anderen Seite lebten, überhaupt wiedersehen? Meine Mutter war verzweifelt und mein Vater auch. Ab jetzt wurde die Bürokratie ein riesiges Hindernis, die Bespitzelung begann. Und wir Nachkriegskinder hatten wenig Kontakt zur westlichen Verwandtschaft. Die Familie meines Onkels mit seinen vier Kindern kenne ich kaum.
Republikflucht stand unter Strafe, das eigene Volk war eingesperrt und beobachtet. Ich rechnete nicht damit zu erleben, dass die Mauer wieder fällt!
Ich wuchs heran und nahm verschiedenste kreative Einflüsse in mich auf. Vor allem malte ich mit Kohle und weichen Bleistiften. Mit den weichen Stiften kann man besser schattieren. Für Biologie, eines meiner Lieblingsfächer, verzierte ich kunstvoll die Hausaufgaben. Ich malte alles ab, was mir gefiel. Blumen, menschliche Organe, mitunter nicht unkompliziert, Tiere, Bewegungen studierte ich. Ich skizzierte auch Gesichter. Dafür musste mir meine Tübinger-Oma Minchen Modell sitzen. Es wurde ein winziges Porträt, gut zu erkennen, und sie trug es immer in ihrer Brieftasche.
Am liebsten verkrümelte ich mich damals zum Malen in das Büro meines Vaters. Im Winter war es dort jedoch zu kalt, dann ging ich in die warme Stube und hatte Zeit, bis die Familie sie vereinnahmte. Oder in die kleine Küche, die nach dem täglichen Nachmittagskaffee von den anderen eine Zeit lang unbenutzt war. Ich wollte allein sein, vor allem beim Malen und bei den Hausaufgaben.
Ich sog alles in mich auf, was nur im weitesten Sinne mit Kreativität zu tun hatte. Neben dem Malen war das vor allem die Musik, die bei uns eine große Rolle spielte. Mein Vater hatte als Kind Geige gelernt, Opa Karl spielte Schlaginstrumente in einem Spielmannszug. Für meine Mutter war Musik besonders wichtig, weil sie als Kind in diesem ungewöhnlich ruhigen Haushalt mit gehörlosen Eltern gelebt hatte, die nicht verstehen konnten, dass sie sich ein Instrument wünschte. Von ihrem ersten Gehalt kaufte sie sich, wie schon verraten, eine Mundharmonika, und besonders gern hörte sie Volksmusik – nicht zu verwechseln mit dem volkstümlichen Schlager, der heutzutage so massenwirksam herrscht. Sie schwor sich, ihren Kindern den Wunsch nach einem Instrument zu erfüllen. So geschah es auch. Anita lernte Akkordeon und Sabine Mandoline. Ich sehe noch heute die glücklichen Augen meiner Mutter, wenn wir gemeinsam sangen – bei allen möglichen Tätigkeiten, vor allem beim Abwaschen oder Kochen.
Ich traute mir vieles zu und konnte vieles erproben. Bereits mit drei Jahren, so meine Mutter, sang ich manchmal im Hausflur. Es hallte gut wie in der Kirche, und dazu tanzte ich vor dem Spiegel. Am liebsten in den Absatzschuhen meiner Mutter, man rutschte so schön nach vorn, und es klapperte dabei. Mutters Röcke mussten auch herhalten, das ganze Programm. Das gefiel mir, obwohl ich es damals noch nicht aus dem Fernsehen kannte. Keine Ahnung, wer mich beeinflusst hat.
Später tanzte ich in der Volkstanzgruppe der Schule und sang im Chor. Meine Stimme muss früh aufgefallen sein, denn anders kann ich mir nicht erklären, dass ich schon in der ersten Klasse zum Singen in die Mitte eines Kreises gestellt wurde, der aus meinen Mitschülern bestand und sich tanzend um mich drehte. Der Klassenlehrer Herr Hüter fiedelte dazu auf der Geige. Ein alter, erfahrener Lehrer, der auch mal Backpfeifen verteilte oder kurz, aber wirkungsvoll mit einem Rohrstöckchen auf die Finger haute. Das waren seine Erziehungsmaßnahmen.
Ihn würde ich heute gern mal beobachten beim Unterricht in einer Berliner Grundschule. Bei der Unruhe der Schüler und der Ohnmacht der Lehrer ihnen gegenüber. Mich hat die Respektlosigkeit der Schüler, die ich in der Klasse meines Sohnes mitbekam, oft sprachlos gemacht. Und die Ohnmacht der Lehrer fassungslos. Die Respektlosigkeit unserer Zeit. Respekt ist wichtig, aber das geht auch ohne Schläge. Wird ein Zusammenleben in gegenseitiger Achtung jemals möglich sein?
Zwei Jahre nach meiner Einschulung wurde an der Polytechnischen Oberschule Adolf Trütschler ein kleiner Wettbewerb veranstaltet. Vorbild
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